Michael Seeger Rezensionen

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Tabu

Ferdinand von Schirach

GOTT, ein Theaterstück

2020, Luchterhand, München 160 S.

18,00 €  ISBN 978-3-630-87629-0

gelesen November 2020

Wem gehört unser Leben?

Ein trockener Verhandlungsplot weiß tatsächlich zu fesseln.

 

Wie schon der Roman "Tabu" ist das aktuelle Theaterstück Ferdinand von Schirachs in einem Zug, an einem Tag, gelesen. Wie dort liegt das an der präzisen lakonischen Sprache des Autors. Völlig unprätendiös werden in einer Anhörung vor der Ethik-Kommission Fragen von Leben und Tod abgehandelt, genau die Frage, ob eine ärztliche Beihilfe zum selbstverantworteten Suizid gerechtfertigt ist.

Obwohl alle in einer Art Tribunal - ja, es ist keine Gerichtsverhandlung, eher eine Erörterung, dennoch hat das Drama forensischen Charakter - nichts als längst bekannte Statements vortragen, manchmal gar in Form von Manifesten, ist das Stück nicht langweilig. Viele Dramen forensischen Charakters sind an der Dramaturgie dieser Settings gescheitert, sie sind nichts als langweilig. Glorreiche Ausnahmen sind Kippardts "In der Sache J. Robert Oppenheimer" oder Schnitzler "Professor Bernhardi", vielleicht noch Kleists "Der zerbrochene Krug", Dramen, welche ich mehrfach auf bedeutenden Bühnen wirksam umgesetzt gesehen habe. Meist aber scheitert der Versuch, eine Verhandlung, einen Disput, also Reden ohne Handlung, bühnenwirksam zu gestalten.

V. Schirach aber versteht es, mit Sachkunde, Präzision und Aktualität zu fesseln. Schön finde ich, wenn, wie zuletzt in "Stern 111" Figuren aus Vorgängertexten wieder auftauchen. Hier ist es der Rechtsanwalt Biegler, Rechtsbeistand des 78-jährigen Richard Gärtner, der begehrt, medizinische Hilfe (Pentobarbital) für seinen erwünschten Suizid zu erhalten. Biegler wurde bereits in "Tabu" als Alter Ego des Autors identifiziert.

Das Überraschende an Gärtners Todeswunsch ist: Er ist weder unheilbar krank, noch verzweifelt. Aber sein Leben nach dem Tod seiner Ehefrau hat einfach überhaupt keinen Sinn mehr. Außerdem hat diese ihm in ihrem qualvollen Sterben das Postulat mitgegeben: "Mach es richtig!" (S. 19).
Ist es Schlampigkeit von Seiten des Autors oder des Lektorats, dass sich Gärtner zu Recht gegen den Begriff "Selbstmord" wehrt, ihn später dann aber selbst benutzt? (S. 70) - geschenkt!

Der Auftritt des sehr engagierten Rechtsanwalts Biegler ist z. T weltfremd, wenn er den theologischen Sachverständigen Bischof Thiel wie in einem Tribunal mit den Verbrechen und der Verlogenheit der (kath.) Kirche konfrontiert. Das sind klischeehafte Allgemeinplätze, wie ich sie auch schon dargeboten habe. (Referat beim Skeptiker-Brunch der Giordano-Bruno-Gesellschaft). Thiel steht hier - vorgeführt - auf so verlorenem Posten wie die Vertreter der Kirche in Brechts Galilei.

Wenn auch nicht sachdienlich, gibt Biegler eine treffende Zusammenfassung der bekannten Bibel-und Glaubenskritik:

"Und noch dazu trägt Ihr Gott selbst für diese erste Stunde die Verantwortung. Er hat den Baum der Erkenntnis gepflanzt, und er hat die bösartige Schlange erschaffen. Wenn man es nüchtern betrachtet, dann setzt Gott erst den Anreiz für die Tat, wobei ihm dank seiner Allwissenheit ja völlig klar sein muss, dass Adam und Eva sie auch begehen werden. Danach lässt er sich in Menschengestalt für diese Tat töten und vergibt uns so die Schuld, die er selbst verursacht hat. Die Sache klingt ein wenig irrsinnig, oder?" (S. 102)

Was habe ich gelernt? Erstens: Die Strafrechtsnorm des STGB § 217 wurde durch das Urteil des BVG vom 26.02.2020 als verfassungswidrig eingestuft. Das war Voßkuhles letztes Urteil. Zweitens: Der berühmte Hippokratische Eid wird von Ärzten gar nicht als Eid geleistet. Er ist vielmehr integrierter Bestandteil der überkommenen ärztlichen Ethik.

Der Erste Akt endet mit der Ankündigung einer Abstimmung durch das Theaterpublikum zu der Frage, ob Gärtner Pentobarbital für einen "humanen" Suizid erhalten soll. Nach der Abstimmung erhalten im Zweiten Akt die Kontrahenten Frau Dr. Keller und RA Biegler die Gelegenheit zu zusammenfassenden Plädoyers. Fetzig wird eine Theateraufführung, wenn es den jeweiligen Schauspielern gelingt, das Ergebnis der jeweiligen Publikumsabstimmung in ihre Reden spontan einzubauen.

Ich hoffe sehr, dass die am 23. November 2020 ausgestrahlte ARD-Version - mit Starbesetzung! - hält, was der Dramentext verspricht. (R.: Lars Kraume; D: Habich, Eidinger, Auer, Matthes, Mühe).1
Ein abschreckendes Beispiel eines misslungen Fernsehfilms ist der am 18.11. 2020 in der ARD gesendete Film "Ökozid".

Wie sehr das Thema in unsere Alltagserfahrung reinspielt, zeigte sich am Tag meiner Lektüre. Unterwegs an der Bahnstrecke Freiburg - Basel wurde ich Zeuge, wie ein ICE durchfuhr, ein RB aber durch scharfe Notbremsung zum Stehen kam. Auf den Gleisen lief ein junger Mann, der sich das Leben nehmen wollte. Ein zweiter Mann sprach auf ihn ein und versuchte, ihn vom Suizid abzubringen Ich rief über 110 die Polizei und gehe davon aus, dass der Suizid verhindert werden konnte. Diese butale Suizidvariante wird als "Schienentod" in v. Schirachs Drama abgehandelt.

Michael Seeger, 17. November 2020


1 Die Sendung ist in der Tat gut gelungen. Christiane Paul als Prof'in Litten hat ihren Text gar zu gut gelernt, so dass die Antworten nur so dahersprudeln, ohne dass sie reflektieren muss. Die Zahlen und Fakten schießen temporeich aus ihr heraus. Lars Eidinger als RA Biegler macht es besser, indem er immer wieder einen Bklick auf sein gut präpariertes Tablet wirft und seine Arroganz schön mit Fakten untermauert. M. Habich als Gärtner spielt auch außersprachlich - vor allem in der Mimik - vollkommen überzeugend, ebenso wie U. Matthes als Bischof Thiel, von dem man nichts anderes gewohnt ist. Kraumes Regie ist zurückhaltend-sachlich, so dass v. Schirachs Text voll zum Tragen kommt. Trotz der Statik des Tableaus kommt keine Langeweile auf, weil das ernsthafte Thema fesselt und die argumentative Schärfe der Textvorlage sich pointiert entfalten kann. Klug setzt Kraume die Schlussplädoyers vor die Abstimmung.

Die Publikumsabstimmung ist noch deutlicher ausgefallen, als ich erwartet hatte: 70,8 % der Zuschauer sind mit mir dafür, dass Gärtner sein Medikament bekommen soll.

Plasbergs hart-aber-fair im Anschluss war unnötig: Alle vorgetragenen Argumente waren im Film/im Text bereits ausgetauscht.

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