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Jean-Paul Dubois: Ein französisches Leben
List (606989) / Ullstein 2007, [franz. Originalausgabe 2004 Éditions de l'Olivier/Le Seuil], übersetzt von Lis Künzli, 366 S.
links - linker - Paul Blick
In solche existenziellen Überlegungen eines kompromisslosen Atheisten eingerahmt ist die Ich-Erzählung des längst desillusionierten 54-jährigen Paul Blick, der sich in seiner immer stärker werden Einsamkeit an seinen beiden Kindern und vor allem seinem Enkel festhält, als könne dessen Lebensenergie auch ihn nach all den erlebten Schicksalsschlägen noch am Leben halten. Sein Analytiker immerhin, den er nur dafür bezahlte, dass er mit jemanden über Rugby reden kann, hatte es nicht mehr ausgehalten und zuerst Frau und Kinder, dann sich selbst ermordet. Was vor den Augen des Lesers wie ein Episodenfilm sich abspult, ist ein heißes Leben voller Glück, glücklichem Zufall und manchmal auch echter Anstrengung, schließlich von Katastrophen, das der im Grundton des Sarkasmus verharrende Erzähler geschickt mit den Zeitläuften Frankreichs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kombiniert: eine degenerierte Republik.
Die
Kapitel tragen als Überschrift die Regierungsperioden der französischen
Präsidenten, angefangen mit de Gaulles Installierung der 5. Republik 1958: "Es
war der letzte Sommer, den ich mit Vincent erlebte. Sehr bald nahm de Gaulle am
Tisch mir gegenüber seinen Platz ein. Ich meine damit, dass wir den
Grandin-Fernseher hinter dem Stuhl installierten, auf dem mein Bruder zehn Jahre
lang gesessen hatte. Für mich kam dieser Akt einer Usurpation gleich, zumal der
General sein Leben im Grandin zu verbringen schien. Rasch begann ich diesen Mann
zu hassen. Sein süffisantes Gehabe, sein Käppi, seine
Leuchtturmwächteruniform, sein ganzes hochmütiges Äußeres störten mich,
seine Stimme war mir unerträglich ...." (14)
Der
Protagonist gerät voller Lust in die Wirren der 68-er Revolte, politisch links
bis zum Anschlag, ein Erbe, das auch mit 54 Jahren noch nicht aufgezehrt ist,
und ohne Unterhose sich kleidend, also "allzeit bereit". Dieser
libidinöse Hang trifft auf allgegenwärtig sexuelle Fantasien und konkrete
Angebote, die ihm eigentlich - wie so vieles - einfach zufliegen. Nur eine
Eroberung ist wahre Anstrengung, seine spätere Ehe(!)Frau Anna, mit der er -
von den rechten-reichen Schwiegereltern gezwungen - eine Ehe eingeht, die
logischerweise schief gehen muss. Angenehm, dass die Übersetzerin für die
multiplen Kopulationen das Verb "vögeln" und nur selten
"ficken" wählt. Der Ehebruch scheint für die französischen Gesellschaft
genauso konstitutiv wie die Machenschaften der Politiker, unter denen der
Sozialist Mitterand fast am schlechtesten abschneidet.
Als Leser gleichen Jahrgangs (1950) erlebe ich beim Lesen mein eigenes Leben und die gesellschaftliche Veränderung mit und nach, stelle aber gleichzeitig fest, dass die Franzosen in zwei Punkten offensichtlich entschiedener sind als die Deutschen: erstens in der allgegenwärtigen Libertinage und Promiskuität und zweitens in der unüberwindbaren familiären Bindekraft elterlicher Autorität.
Paul Blick, der als ungeprüfter, gleichwohl diplomierter Soziologe der 68-er Zeit niemals mehr Erwerbsarbeit als lediglich drei Jobs geleistet hat, wird Hausmann und lässt sich von seiner in neoliberalem Unternehmereifer rasenden Ehefrau Anna aushalten. Die große Liebe kühlt rasch ab, stattdessen begehrt er die attraktive, politisch aber unmögliche Schwiegermutter.
Eines Tages erhält der Hobbyfotograf, der - von linksradikaler Skepsis getragen - eigentlich alles ablehnt, von einem Pariser Verleger das Angebot, die Fotos für die beiden Buch-Projekte "Bäume Frankreichs" und "Bäume der Welt" zu recherchieren, zu schießen, zu entwickeln - ganz ohne Termindruck. Es ist die glücklichste Zeit Pauls - fernab der Menschen, von denen er sich bedenklich weit entfernt hat, in Zwiesprache mit seinen stummen Bäumen stundenlang auf das rechte Licht zu warten. Im häuslichen Fotolabor warten andere Freuden: die goldenen Pobacken Laures, der Freundin seiner Frau, die sich von ihrem Mann, einem Airbusingenieur vernachlässigt fühlt. "Als François Milo seine ganze Energie darauf verwand, Tragflächen an Air Lingus zu verkaufen, träumte Laure von einem Cunilingus." (198). Die beiden Bäume-Bücher werden ein Welterfolg und machen Blick zum Millionär, der fortan ein Rentnerdasein führen kann. Das Glück ist aber dahin, so sehr ihn der Erfolg bei seiner Frau und deren Familie sexy macht. Seine Kinder sind ihm entfremdet. Unerbittlich hält er an seiner linken Weltsicht fest, und lehnt ein Angebot Mitterands ab, ihn unter seinen Bäumen zu fotografieren: Er fotografiere keine Menschen. Im Maße dieser Fixierung entfernt er sich immer mehr von der Gesellschaft, den Menschen, dem Leben, so dass die zweite Hälfte der Biografie sich dem heimlichen Thema "Einsamkeit" widmet.
Fast
zwangsläufig folgt Katastrophe auf Katastrophe: der Freitod des einzigen
"Freundes", seines Analytikers, der Unfalltod (?) per Flugzeugabsturz
seiner Frau Anna, der ihr jahrelanges Doppelleben mit einem Toulouser Anwalt in
dessen Haus in Beziers - statt wie vorgegeben in Barcelona auf Geschäftsreisen
weilend - , der den Konkurs der Bäder-Firma Annas nach sich zieht. Sein
Vermögen ist schnell konfisziert. Aus Not ums Überleben nimmt Paul mit 50 zum
ersten Mal in seinem Leben eine bürgerliche Erwerbstätigkeit an: als
selbständiger Gärtner, der in gewohntem Autismus die Gärten der Reichen
kultiviert. 4 Jahre lang pflegt er seine Mutter in den Tod und muss hilflos mit ansehen,
wie seine Tochter Marie wohl unheilbar der Schizophrenie verfällt.
Was macht diesen sympathischen, talentierten, intelligenten Mann zu einem einsamen Wrack? Er hat keinen Glauben, keinen Halt im Leben und kann daher seiner Kindern auch keinen geben. Back to the roots (gleichwohl gut links) kann er liebevoll seine Mutter in den Tod begleiten, den anderen Zeitgenossen aber kein Mitmensch sein. Aller Sarkasmus, der sich in Paul Dubois treffenden Formulierungen köstlich liest, kann den gleichnamigen Protagonisten Paul nicht darüber hinwegtäuschen, dass tapfere linksradikale Ablehnung der gegebenen und sich ändernden Verhältnisse noch keinen Lebenssinn ergeben:
"Das Leben war nichts anders als dieser trügerische Faden, der uns mit den anderen verband und uns glauben machte, dass wir für die Zeit eines Lebens, das wir für bedeutungsvoll hielten, etwas waren und nicht vielmehr nichts." (366)
Michael Seeger, im Juni 2012
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