Michael Seeger | Rezensionen | Forum |
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Adriana Altaras:Besser alleinals in schlechter GesellschaftMeine eigensinnige TanteKiepenheuer & Witch (KiWi 1950) Köln, 32024, 236 S., 14,00 EUR ISBN 978-3-452-00702-2 gelesen Februar 2025 |
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Das ist für mich der bislang erste und einzige Corona-Pandemie-Roman: Die 99 bis 101-jährige Tante der stark autobiographisch erzählenden Autorin lebt in einem Pflegeheim in Mantua und ist aufgrund der verfluchten "MALATTIA" eingeschlossen und isoliert. Was hilft, sind fast tägliche Telefonate mit der in Berlin lebenden Nichte Adriana. Aus beiden Perspektiven wird erzählt, und so ist es eigentlich ein Doppelroman. Stilistisch unterscheidet sich allerdings die Figurenrede der Alten nicht von der Suada der 60-jährigen Nichte. Es handelt sich bei den "Reden" eigentlich um innere Monologe an der Grenze zum Gedankenstrom. Ein Adressat ist nicht ersichtlich. Gelegentlich haben wir ein wörtliches Dialog-Abbild der Telefonate. Die drehen sich allerdings im Kreis, so dass man den Roman eigentlich schon nach wenigen Kapiteln beiseite legen könnte, es sei denn man findet Gefallen an Redundanz.
Und natürlich sind die Gedanken einer einsamen alten Frau redundant. Teta Jele, eine kroatische Jüdin, stammt eigentlich aus Zagreb. Von der faschistischen Ustasa in ein Lager auf der Insel Rab verschleppt, konnte die Frau fliehen und ihre Nichte mit nach Italien nehmen; dort zog sie Adriana wie eine Tochter auf und blieb ihr lebenslang verbunden. Jetzt während der Pandemie (2020) ist sie der einzige Kontakt zur Außenwelt.
Jele erinnert in hrer Lebenslust stark an Brechts "Unwürdige Greisin". Jetzt - eingesperrt - muss sie Ihr Erleben rein gedanklich vollziehen. Verfolgung, Enteignung und eine unglückliche Ehe können dem Lebensmut der resilienten, klugen Frau nichts anhaben: "Ich bin nur alt, nicht debil!" (S. 67)
Was mir gut gefällt, sind die Italianità ("Pasta!" "Cafè") und auch die teils nicht übersetzten italienischen Sätze und Sprichwörter, aus denen sich der Lebenssinn der Alten nährt.
"Se c'è una cosa che mi fa tanto male è l'aqua minerale!" (S. 71)
Ganz im Gegenteil zur resoluten Tante, die die Shoa unbeschadet überlebt hat, zergeht die Nichte Adriana in zerfleischendem Selbstmitleid, nachdem sie ihr Ehemann nach 30 Jahren mir nichts dir nichts verlassen hat. Adriana ist eine tüchtige Opernregisseurin und Schauspielerin (wie die Autorin), und zu der will diese esoterische Weinerlichkeit eigentlich gar nicht passen:
"Der Schmerz dauerte an, ungeduldig bemühte ich eine Astrologin, eine Hypnotiseurin, eine Kartenlegerin. Ich ging zur Familenaufstellung, zur Familientherapie und zur Systemischen Analyse." (S. 179)
Darf man das heute so noch sagen? Es ist ein Frauenbuch, von Frauen über Frauen. Über einen Frauen-Lesezirkel bin ich auch darauf aufmerksam geworden.
Dem Plot fehlt Dynamik und Progression. Die Wiederholungsschleifen ähneln sich. Ich könnte bei S. 69 z.B. die Lektüre beenden.
Wer aber Hunde mag, gerne Milch trinkt, Kochrezepte ausprobiert und Paciencen legt , mag sich bis zum Ende (d.i. Tantes agonaler Tod) gerne vergnügen. Es tut nicht weh.
Michael Seeger, Buenos Aires, 25.02.2025
© 2002-2025 Michael Seeger, Letzte Aktualisierung 25.02.2025