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Gerhart Hauptmann : "Die Ratten"
Die Handlungen (Thema 2 der
Klausur 1)
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Die Tragikomödie "Die Ratten" von Gerhart Hauptmann hatte als ursprünglichen Titel: "Der Storch beim Maskenverleiher".
Gerhart Hauptmann schreibt dazu am 9. Januar 1910 an Otto Brahm: "...die Ratten sind umgetauft. Jetziger Titel: Der Storch beim Maskenverleiher. Dieses dürfte den Berlinern süß zu hören sein und bei starker Verwunderung einen Gaumenkitzel erregen. Das Essen selbst hat freilich einen bitteren Nachgeschmack.."(S.127 oben)
Der "süßliche " Titel führt bei näherer Betrachtung des Inhaltes des Dramas in die Irre... Unter dem Zuckerguß dieses Titels stürzt man in die schäbige, unangenehme, dunkle Welt des Stückes - eine Welt in der man in ständiger Gefahr lebt einzubrechen - auf dem Boden dieser morschen Welt. Eine Welt voller Lügen - Lebenslügen, Notlügen ...Von diesem Aspekt aus betrachtet, wäre der Titel treffend verwandt, denn die Erklärung, dass der Storch die Kinderchen bringt, ist ebenso gelogen und zeugt von einer scheinheiligen Moral. Den Kindern nicht die Wahrheit sagen, den Kindern Zuckerlügen schenken - so reif sind sie doch noch nicht, um mit dem wirklichen Vorgang einer Zeugung vertraut gemacht zu werden.
Die Kinder fallen vom Himmel, der Storch bringt sie; ein bisschen ist es so in den "Ratten" - für Herrn John scheint es denkbar, dass seine Frau sozusagen ohne Schwangerschaft ein Baby "präsentiert"; plötzlich ist das Kind da, und weder er noch der Direktor Hassenreuter fragen genauer nach oder haben die "Bauchlosigkeit" der Frau John bemerkt. Der Storch eben, ... klingt nach Sauberkeit, Arglosigkeit, storchen-weiß, storchen-rein. Aber die tatsächliche Geburt, die auf dem Dachboden der Mietskaserne auf Kisten, zwischen Kisten des Theaterfundus stattfindet, ist nicht sauber, nicht rein. Geburten sind blutig, mit Schreien und Schweiß verbunden, und diese scheint durch den "Kaufvertrag" der Frauen besonders unrein, unsauber.
Der Maskenverleiher Hassenreuter maskiert sich selbst mit seiner "moral-bürgerlichen" Haltung - überall im Drama steht hinter dem äußeren Schein ein meist anderes Sein.
Deshalb scheint mir der Titel "die Ratten" noch treffender, noch umfassender und eindringlicher, da er die gesamte Personage einschließt und "entlarvt". Die Ratten als ein Symbol für eine Scheinwelt, eine Welt, an der genagt wird, bis sie eines Tages vor Ausgehöhltheit zerfällt. Die Welt ist von Innen heraus zerfressen, deshalb ist es fast schon zu spät, wenn man von außen endlich auch den Zerfall bemerkt - dann ist das Innere schon längst verloren. Die Menschen in den Ratten wirken selbst zum Teil schon rattenhaft - der erste Auftritt Brunos auf dem Dachboden erinnert an ein Tier: "...langsam forschend tritt Bruno Mechelke aus der Tür..." Sein Äußeres, insbesondere seine Augen, deren Pupillen "schwarz, klein und stechend" wirken (S. 7 oben) erinnern an eine Ratte. Und absurderweise ist er auch noch zum Rattenfangen von seiner Schwester Henriette beauftragt worden.
Die Ratten, die da auf dem Dachboden herum huschen und die Menschen, die dort oben zugange sind - oft versteckt wie Ratten, im Halbdunkel in den Luken, hinter Türen und den Ereignissen vorne lauschend - sie sind sich in manchem ähnlich. Ratten fressen sich in Krisenzeiten gegenseitig, fressen ihre Kinder, und auch in dem Stück verzehren, zerfleischen sich die Menschen wenn auch nicht körperlich. Das Schicksal frisst an ihren Seelen, die Blindheit einander gegenüber, die Prinzipienhärte, die Sehnsucht nach einer heilen Welt frisst und frisst an der Psyche der Personen. Dieses "nagende" Gefühl, welches das Stück hinterlässt, scheint mir gut symbolisiert in dem Titel "die Ratten", Tiere, die auch als Lebewesen oft Ekel bei den Menschen hervorrufen, so wie manchmal das Schicksal und die seelischen Abgründe eines Menschens auch ein ähnliches Gefühl von Ekel, von Bedrängnis, von fast körperlicher Abwehrhaltung hervorrufen können.
Gerade diese Abwehrhaltung gegen die Empfindungen anderer Menschen scheint mir ein wichtiger Charakterzug der männlichen Hauptfigur Hassenreuter.
Ein nach außen hin stattlicher, gebildeter "moralisch" hoch anspruchsvoller Mann (je nach dem, was man unter Moral versteht ), der überall dabei ist, aber nie wirklich da zu sein scheint - der ständige Regisseur und Kommentator seiner Umwelt - er versteht alles und begreift nichts. Die Handlung unterstützt das Bild: der "brave Familienvater" hintergeht seine "dicke, asthmatische Gattin" mit einer reizvollen, wie sie selbst sagt "gefährlichen" Schauspielerin, Alice Rüttersbusch. Die Begegnung der beiden findet auf dem besagten Dachboden statt, wo sich - ebenfalls heimlich -Hassenreuters Tochter Walburga mit ihrem "Geliebten" Erich Spitta treffen wollte. Da dieser etwas verspätet kommt, hört Walburga die Szene im Versteckten mit und erfährt so den "wahren" Charakter ihres hochgeschätzten "Papas". Der "Geliebte" Erich platzt in die "Liebesszene" herein und verkündet seine Absicht, von Theologie auf Schauspiel zu wechseln, und bricht deshalb später als "verlorener Sohn" den Kontakt zum Elternhaus ab, da sein Vater seinen Entschluss nicht akzeptiert.
Spitta und Hassenreuter verstricken sich im Verlauf des Stückes in immer heftigere Debatten über Kunst, insbesondere die Schauspielkunst. Auf einer Ebene läuft eine sachliche Auseinandersetzung, unterschwellig brodelt jedoch ein Generationskonflikt sowie eine Eifersüchtelei um Walburga.
Die zweite Hauptfigur, Frau John, die mit dem ersten Handlungsstrang hauptsächlich durch den Ort des Geschehens dem Dachboden, auf dem sie als Reinmachefrau angestellt ist verbunden ist, scheint auf den ersten Blick eine einfache, herzensgute Frau zu sein. Im Verlauf des Stücks entwickelt sie sich zur tragischsten Figur der "Ratten". Durch den frühen Tod ihres ersten Kindes und die darauffolgende längere Kinderlosigkeit ist in ihr der Wunsch nach einem Kind zur Besessenheit geworden. Ihr Mann Paul nährt diesen Wunsch durch seine ständige "Nichtanwesenheit" und durch sein eigenes Verlangen nach einem Kind. Das tote Kind scheint das einzige Band zwischen den Eheleuten zu sein, und ein "neues" würde vielleicht noch mehr Glück und Heilung bringen.
Frau John gabelt eines Tages die völlig verzweifelte Pauline Piperkarcka auf, die hochschwanger von ihrem Geliebten sitzengelassen wurde und sich nun in den "Landwehrkanal" stürzen will. Die Frauen handeln einen Vertrag aus, der Frau John das Kind nach der Geburt zusichert und Pauline eine Summe Geld (123 RM).
Eine gewisse Zeit lang plagt das schlechte Gewissen, und sie will ihr Kind zurückfordern Nun zerbricht alles in kurzer Abfolge: Die Hoffnung auf Glück wird durch die Wegnahme des Kindes gleichfalls entzogen und Frau John flüchtet mit dem Kind eine Zeit lang. Beauftragt von seiner Schwester, soll Bruno Pauline eine Abreibung verpassen, die jedoch in Totschlag an dieser endet. Als Paul John die Wahrheit über den Verlauf der Geschichte erfährt, wendet er sich von seiner Frau ab, was diese in den Selbstmord treibt.
Besonders in diesem Selbstmord, der eigentlich eher ein Mord durch die Umstände ist, zeigt sich die tragische Seite des Stückes. Kein Held oder Heldin geht in dem Tod mit stolzem Gefühl in der Brust, wie es oft in den pathetischeren Dramen der Vergangenheit gezeigt wurde , es ist eine Tragik, die keine "Absicht" in sich trägt. Der Tod passiert, ohne dass er zum "Denkmal zum Heldentod" erstarrt. Es ist eine "unbewusste" Tragik, die sich in dem Stück entwickelt Frau John ist eine "unbewusste" Person - praktisch - aber nicht mit Überblick oder Bewertungsgabe. Und so ist auch "ihr" Tod eine fast "praktische" Tat, eine unüberlegte, aber in gewissem Maße zweckdienliche, da alles zerbrochen ist, was Frau John hätte halten können. Der Tod ist eine logische Folge, aber der Selbstmörderin nicht als solche bewusst.
Das Tragikomische wird auch in der Figur Spittas verdeutlicht: hochgebildet und von dem tiefen Wunsch nach dem Besseren, nach einer bessern Welt beseelt, aber verworren, gefangen in seiner Theoretik, seiner Passivität; unfähig, seine Utopien wirklich umzusetzen, gerät er mit ihnen in eine gewisse Lächerlichkeit. Die Ziele können nicht ganz ernst genommen werden, bleiben leblos, lächerlich, seltsam abgehoben. Die Figur Spittas löst ein mildes Lächeln beim Zuschauer aus. Die Bemühungen, ein Christ zu sein und am Leben vorbei theoretisierend, Kunstdebatten mit voller Seele führend und am Hier und Jetzt scheiternd, wirken wenig überzeugend.
Auch Hassenreuter ist in seiner unwirklichen Welt gefangen und kommentiert nur das Leben um ihn herum.- wirft lächerliche lateinische Phrasen in eine Welt voll Mief und Staub, hält Moralreden und ist selbst halbseiden, voller Schatten.
Die lächerlichste Figur ist Hassenreuter, der das ganze Drama hindurch seine aufgeblasene, festzementierte Ruhe und Selbstgefälligkeit nicht verliert - nicht einmal dann aus der Bahn gerät, als ihn seine Tochter des Fremdgehens beschuldigt. Nicht einmal der Tod der Frau John scheint seine Fassade zu erschüttern; er kommentiert: "meinethalben mag diese entsetzliche Frau doch verzweifelt sein!"
Die Seelenlage seiner langjährigen Angestellten kümmert ihn überhaupt nicht - nur für das "deutsch-nationale Stück Menschenfleisch", das Baby, zeigt er etwas Herz, will sich seiner annehmen.
Der Begriff Tragikkomödie scheint mir zutreffend zu sein. Diese Ambivalenz in dem Stück, die Verschlungenheit von Tragödie und Komödie rechtfertigen den Begriff "Tragikomödie". Denn nur vor dem Hintergrund der Tragödie wird die Figur Hassenreuters etwa zum Komödianten. Die Fassadenhaftigkeit, die Lebenslügen sind gleichermaßen tragisch wie lächerlich, komisch.
Die Tragik zeigt besonders ihr Gesicht in der Täter-Opferrollen-Betrachtung: die Täter sind zugleich Opfer, die Opfer zugleich Täter...
Die Komik bleibt verzerrt durch die Tragik, die Tragik wird schärfer durch die Komik, bitterer, lächerlicher. Eine Halbwelt, überall - aber vielleicht ist das Stück gerade deshalb "näher dran", weil auch im wirklichen Leben sich niemals eine so hohe, pathetische Tragik enthüllt wie in den meisten klassischen Dramen..
Die Moderne - besonders der Naturalismus - versucht, mehr lebensnahe Kunst zu betreiben. Die Abgrenzung bzw. Kontroverse zwischen Moderne und Klassik zeigt sich auch in den Gesprächen Spittas und Hassenreuters. Frau John wird "lächerlich" von ihnen eine tragische Muse bezeichnet, eine Undenkbarkeit für die Klassizisten - eine "tragische Muse" die von Beruf Putzfrau ist.
Rinnsteinkunst - anstatt an Königshöfen oder Ritterburgen findet das Schauspiel in der Moderne seinen Platz in Mietskasernen, Hinterhöfen, ganz dicht beim Rinnstein. Man riecht , man hört , man sieht das wirkliche Leben- die Rinnsteinkunst bemüht sich um Authentizität: die Figuren des Dramas sprechen beim "Hauptnaturalisten" Gerhart Hauptmann Dialekt - da wird aus dem Bauch geredet, wies aus dem Herz, Bauch und Kopf rauskommt - ganz menschennah. Man geht nicht mehr ins Theater, um in einer anderen Welt zu sein, sondern um die Fülle dieser Welt zu erfahren, um Menschen auf der Bühne zu sehen anstatt puppenähnlicher Figuren.
Die Ästhetik bleibt natürlich etwas auf der Strecke - so die Kritiker. Nur die schöne Seite des Lebens zu sehen bzw. sehen zu wollen, ist falsch, aber genauso ist es nicht richtig, nur das Schlimme, das Schäbige zu zeigen.
Aber vielleicht muss man nur intensiver hinschauen in der Moderne - in den "Ratten" zeigt sich auch viel Menschlichkeit - die Hilfe der Frau John für das Nachbarskind Selma, die zarte - wenn auch sehr theoretische Liebe zwischen Spitta und Walburga, das schlechte Gewissen der Pauline, die ihr Kind doch nicht so einfach weggeben will, das Verantwortungsgefühl des Direktors für das Kind. Sicher, alles ist nicht ganz "rein" und "edel"; Aber positive Seiten sind trotzdem da, schimmern immer wieder durch die Schäbigkeit und Trostlosigkeit dieses menschlichen Gewirrs. Wir sehen eine Licht und Schattenwelt - wenn auch etwas mehr Schatten fällt in der Zeit der Moderne.
Juliane Wissmann