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Anthologie: "Züge" Erzählungen und Gedichte LK Deutsch(1999), 120 S.
ZügeDie Bäume und Felder rasten an ihr vorbei, Wiesen und Flüsse schienen fast an ihr vorüber zu fliegen. Als sie herabblickte, verschwammen die Buchstaben vor ihren Augen und waren nur noch schwarze Klötze und Balken, die immer größer und dunkler zu werden schienen. Der Inhalt, den diese Klötze zuvor beschrieben hatten, wollte ihr nicht mehr einfallen. Sie konnte sich nur besinnen, dass es mehrerer Minuten bedurft hatte, ehe sie den Inhalt eines Satzes begriff. Was nicht bedeutete, dass das Buch, das sie zitternd in den Händen hielt, sonderlich schwer zu lesen war. Einmal hatte sie ihre Mutter ausgelacht, als sie ihr erzählt hatte, dass sie einen bestimmten Satz schon siebenmal gelesen hatte, weil sie einfach zu abgelenkt war. Damals konnte sie es nicht begreifen, wie man sich so gehen lassen konnte. Jedenfalls konnte sie es sich nicht vorwerfen, jemals so die Kontrolle über sich verloren zu haben, wie damals ihre Mutter, die während des Lesens versucht hatte, zwei lästernde alte Frauen zu belauschen. Doch hier war es still. Sie war die einzige Reisende in ihrem Abteil. Kein Gespräch, kein Kinderlachen, keine Geräusche eines Schlafenden. Stille. Nur das leise Rattern der Räder, die sich immer wieder, in immer gleichmäßigem Rhythmus der Richtung der Schienenführung ergaben. Und trotzdem gelang es ihr nicht, sich zu konzentrieren. Vielleicht, dachte sie, musste sie sich doch eingestehen, dass die Sache mit ihm sie mehr beschäftigte, als ihr behagte. Die Sonne schien grell durchs Fenster. Ihr mitten ins Gesicht. Ihr Licht ließ die Felder und Wiesen in schimmerndem Smaragdgrün und sattem Goldgelb erstrahlen. Er hätte bestimmt den Ausdruck "Bilderbuchwetter" gebraucht. Doch sie empfand das schimmernde Sonnenlicht als unangenehm, nervraubend, weil der leuchtende Ball sie mit seinem Licht blendete und vor ihren Augen neonfarbene, grellgrüne Ringe und seltsam geformte Gebilde auf und ab tanzen ließ. Benommen von der Wucht des Lichtes und ihren vorausgegangenen Gedanken, stand sie auf, schüttelte ihre von der Fahrt eingerosteten Körperteile, und ging ans Fenster. Die Geschwindigkeit des Zuges schien sich verlangsamt zu haben. Sie hielt den Griff des Fensters für einige Augenblicke fest in ihren Händen, und als sie sich vergewissert hatte, dass niemand sie beobachten konnte, ließ sie das Schiebefenster hinab. Zögerlich, doch willens dazu, lehnte sie sich aus dem Fenster und ließ sich den kühlen, jedoch angenehm belebenden Fahrtwind um die Nase wehen. Sie blickte in die Ferne und nahm zum ersten Mal bewusst die Schönheit der Welt außerhalb ihres Abteils war. Sie lächelte verschämt, indem sie sich die Hand schützend vor ihren Mund hielt und war vollkommen überwältigt von einer Leichtigkeit, die plötzlich in ihr aufstieg. Gefüllt von innerlicher Freude und Wärme, erforschte sie die Umgebung in all ihren Einzelheiten, Farben und Formen. Fasziniert beobachtete sie das langsame Aufsteigen von Rauchschwaden, die weit in der Ferne langsam aus ihren Verstecken, aus unheimlich großen Schornsteinen gekrochen kamen. "Eigentlich gar nicht meine Art. Aber es gefällt mir." Woher wusste sie aber, was genau ihre Art war, und was nicht? Und hatte sich in ihr während der Zugfahrt nicht etwas geändert? Und hatte sie nicht die ganze Zeit über an ihn gedacht? Immer wieder hatten sie leichte Stöße gegen das Zwerchfell, die durchaus angenehm waren, daran erinnert, dass es wirklich so war. An ihn denken ... Aber selbst wenn es so wäre. Dieser Zug war längst abgefahren. Ganz anders, als die Züge, in denen sie fuhr. Diese waren zu bremsen, aufzuhalten. Und ihr Zug? Sie verließ ihr Abteil und spazierte den Gang einige Male auf und ab. Fuhr sich dabei immer wieder in die Haare, schüttelte ein Büschel, ließ wieder los. Als sie sich im Spiegel der viel zu engen und stickigen Zugtoilette betrachtete, hielt sie für einen Moment inne. Begann dann hektisch Luft in sich aufzusaugen und auszupressen. Blick direkt in den Spiegel. Sie nahm ihr Gesicht, wie ein fremdes, in beide Hände, fuhr mit ihren Fingern durch jede ihrer Falten und Furchen, klemmte ihre Haut zwischen Daumen und Zeigefinger - und zog daran. Sie ließ nach. Automatisch glättete sich die Haut auf ihren Wangen. Zurück blieben die geröteten Flecken in Form ihrer Finger. Wellenförmig legte sich ihre Stirn in Falten. Wie alt sie aussah! Es klopfte. "Fahrscheinkontrolle!" Sie öffnete. Vor der Tür stand ein Schaffner. In blauer Uniform. Das Bild eines Kinderbuches entstand vor ihrem Auge: "Auf Entdeckungsreise". |
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