Das Erlernen der deutschen Sprache (in alter Rechtschreibung)

1.2.1. Zweisprachigkeit und Zweitsprachenerwerb

Die Möglichkeit, sich mehrerer Sprachen zu bedienen, stellt eines der herausragenden Kennzeichen der menschlichen Lernfähigkeit dar. Für das allgemeine Bewußtsein bedeutet Mehrsprachigkeit soviel wie «eine eigene Sprache besitzen» und «von der einen oder anderen fremden ein wenig erlernen»: in der Schule, auf Reisen, im Beruf oder freiwillig als zusätzliches Bildungsgut.

Tatsächlich hat es früher in unserer Region kaum Situationen gegeben, in denen Zweisprachigkeit einen unablösbaren Bestandteil der Sozialisation und Lebenspraxis bildete. Aufgrund der Zuwanderung ausländischer, ausgesiedelter und asylbegehrender Kinder und deren Familien gibt es aber eine solche Situation bei uns in zunehmend größerer Zahl.

Je nach Lebensumständen und Absichten muß der Spracherwerb unterschiedlich ablaufen.

Der Spracherwerb «Deutsch als Fremdsprache» findet gewöhnlich im Heimatland statt, außerhalb des deutschen Sprachraumes, wo bis auf den Unterricht die Muttersprache für die Bewältigung der Alltagssituationen benutzt wird. Es wird großer Wert auf die Bedeutung der Wörter und das Erlernen der Grammatik gelegt. Bei Benutzung der Wörter hält man sich strikt an die gelernten Regeln.

Im anderen Falle, «Deutsch als Zweitsprache», muß die deutsche Sprache dieselbe Funktion wie die Muttersprache übernehmen, da man im deutschen Sprachraum lebt und hier wie ein Einheimischer am Leben teilnimmt. Die Wörter und die Regeln müssen bewußt strategisch für die entsprechenden Ziele eingesetzt werden können, um sich sprachlich zu behaupten. Deutsch wird Sozialisationssprache und somit Zweitsprache. Viel wichtiger als die Vermittlung der sprachlichen Systeme des Deutschen (Grammatik, Wortschatz, Aussprache, Rechtschreibung) ist von der Frage auszugehen

 

welche Rollen muß das ausländische Kind in der deutschen Umwelt sprachlich meistern,

in welchen Situationen (Verständigungsanlässen) werden diese Rollen realisiert,

über welche Themen und Sprechabsichten wird kommuniziert, nicht nur i.S. eines Austausches von Inhalten, sondern auch eines sozialen Prozesses, eines Herstellens von beidseitigen Beziehungen.

Die Planung des Sprachunterrichts «Deutsch als Zweitsprache» darf allerdings nicht bewirken, daß das ausländische Kind in der deutschen Umwelt ausschließlich sprachlich gut «funktionieren» lernt. Es muß beim Erlernen der deutschen Sprache ebenso auf die Eigenart des ausländischen Kindes eingegangen und sowohl die deutsche als auch die muttersprachliche Bezugswelt berücksichtigt werden. Die Muttersprache muß also ein wesentliches Element des Sprachunterrichts sein, wo immer es möglich ist.

Wenn auch zunächst nur die Sprachschwierigkeit als Problem wahrgenommen wird, so liegen doch die weitaus größeren Schwierigkeiten des Nicht-Verstehens aufgrund der Teilhabe ausländischer und deutscher Schüler bzw. Lehrer an subjektiv unterschiedlichen Welten. So kann für den einen sinnvoll sein, was dem anderen irrelevant erscheint. Wenn einer den anderen nicht «versteht», sind Lehren und Lernen erschwert, wenn nicht sogar unmöglich.

Da nun fast jedes ausländische Kind, welches zu uns nach Deutschland in die Schule kommt, eine andere Lerngeschichte hat, bedarf es einer anderen Art der Förderung und des Spracherwerbs, um im Unterricht mitzukommen.

Miteinzubeziehen ist die sozialpsychologische Situation und die Andersartigkeit der Welterfahrung ausländischer Kinder, um Schulschwierigkeiten zu vermeiden sowie der enge Zusammenhang von Sprach-, Lern- und Verhaltensproblemen auf verschiedenen Ebenen und in den unterschiedlichen Lernbereichen.


© 2007-2008 Michael Seeger, IES "Lenguas Vivas" Buenos Aires, update 25.08. 2008  mail an m. seeger

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