Michael Seeger Rezensionen

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Olivier Guez

Das Verschwinden des Josef Mengele

Roman

Aus dem Französischen von Nicola Denis
Aufbau Taschenbuch Berlin 2018, 224 S. 12,00 €

ISBN 978-3-7466-3667-2
(Original bei Éditions Grasset & Fasquelle, Paris 2017);

gelesen im Februar 2025

Was für eine brutale Drecksau!

Argentinien und Paraguay decken die Fluchten von NS-Kriegsverbrechern;

und die BRD ist bis in die 70-er Jahre mehr naziverseucht als bislang gedacht.

Guez hat den Fall des Ausschwitz-Lagerarztes minutiös recherchiert. Die im Tatsachenroman dargestellten Sachverhalte spiegeln die Wahrheit über den Kriegsverbrecher und sein Unterstützer-Netzwerk wider. Wie ein Kriminalroman liest sich das Buch. Der Leser gewinnt im Laufe der Lektüre immer besser eine Orentierung darin, was Geschichte und was Geschichten sind. Die Passagen über Mengeles Sexualpraktiken sind sicherlich rein erfunden.

"Zweimal pro Woche, mittwochs und samstags, geht Gregor (Mengeles Tarnname) in einem schummrigen Club in der Avenida Corrientes zu einer lechera, einer Schwanzbläserin. (...) Gregor verbietet den gefügigen Mädchen, seine Haut zu berühren, nur seinen Schwanz, keine Küsse, keine Intimitäten, er zahlt, spritzt ab und geht." (S. 48)

Man sieht, auch dieser Roman ist wie die zuletzt rezensierten leider im wenig geliebten Präsens verfasst. Das Präsens führt uns hinein in das Buenos Aires der 50-er Jahre, wo die zahlreichen Naziverbrecher mit Deck- oder Klarnamen ziemlich unbehelligt verkehren, Geschäfte machen und ihr Herrenmenschentum gerne an Subalternen auslassen:

"Du kleiner Scheißargentinier ..., du hirnverbrannter Trottel ..." (S. 32)

Sie haben Zugang zum Präsidenten Perón, einer Figur, die im Buch nicht besser wegkommt als die Nazi-Größen Mengele, Sassen, Rudel ....

"Perón öffnet sein Land Abertausenden von Nazis, Faschisten und Kollaborateuren; Soldaten, Ingenieure, Wissenschaftler, Techniker und Ärzte; Kriegssverbrecher, die eingeladen sind, Argentinien mit Staudämmen, Raketen und Atomkraftwerken auszurüsten und in eine Supermacht zu verwandeln." (S. 36)

Zahnlücke  

Nach Peróns Sturz wird es für Mengele eng. Ab diesem Zeitpunkt ist er albtraumhaft von Angst und Panik geplagt, entdeckt zu werden. Um seine markante Zahnlücke zu verdecken, lässt er sich einen Schnauzer im Stile von Mark Twain stehen und kaut ständig auf den Barthaaren. (Später in Brasilien muss ihm, der unter Schmerzen schier krepiert, ein Haarklumpen aus dem Gedärm operativ entfernt werden.) Seine Frau Irene - welche mit einem Schuhverkäufer in Freiburg eine Nebenbeziehung pflegt, hält es am neuen Fluchtort in Paraguay nicht aus und verlässt den herrischen Josef. Der wird von Diktator Stroessner protegiert, erhält soger die paraguayische Staatsbürgerschaft, leidet aber unter dem tropischen Klima Ostparaguays und der Primitivität der dort siedelnden deutschen Auswanderer. Nach der spektakulären Entführung Eichmanns durch den Mossad verstärkt sich Mengeles Angst vor Entdeckung. Unter der Identität als Schweizer Farmer "Peter Hochbichler" taucht er in Brasilien bei der ungarischen Migrantenfamilie Stammer unter. Er verwaltet den verlotterten Hof, bespringt die Frau und die Landarbeiterinnen und tyrannisiert seine ganze Umgebung.

Wie hat Mengele sein Exil finanziert? Immer wieder treffen Tausende US-Dollars von seiner Familie ein, welche in Günzburg die florierende Landmaschinenfabrik MENGELE betreibt. Als jemand, der in Paraguay und Argentinien gelebt hat, frage ich mich, auf welchem Weg die Banknoten eigentlich eingetroffen sind.

Mengele ergeht sich in Selbstmitleid und ist rasend zornig auf andere Nazis, die in der BRD unbehelligt Karriere machen, nur er "soll als Einziger zahlen". (S. 142). Gelegentlich verschwimmt dem Autor Guez der historische Bericht mit der Erinnerung der Romanfigur Mengele, wenn der im inneren Monolog die sadistischen Experimente in Ausschwitz memoriert: Wie er zusammen mit seinen Ärzte- und Apothekerkumpanen Clauberg, Hirt und Capenius Frauen z.B. Tierföten einpflanzt, ganz scharf auf behinderte Zwillinge ist, um in ekelhaft sadistischen Operationen und Sektionen seinem "Forscherdrang" nachzugehen.

Am 7. Februar 1979 wird Mengeles Leiche an einem einsamen brasilianischen Strand gefunden. Er ist einsam gestorben, "ohne je für seine unsäglichen Verbrechen mit der menschlichen Gerechtigkeit oder seinen Opfern konfrontiert worden zu sein." (S. 201)

Mengeles Verbrechen waren mir schon vor der Lektüre des Buches bekannt. Spannend war für mich, der ich in Argentinien und Paraguay gelebt habe, wie nazifreundlich diese Länder waren. Das Buch ist eine Krimi! Entsetzt bin ich über die Nazi-Verseuchung Westdeutschlands bis in die 70-er Jahre. Die bekannten Skandale um den hessischen Staatsanwalt Bauer werden im Buch tangiert. Erst Bundeskanzler Schmitt hat dafür gesorgt, dass Mengele seine paraguayische Statsbürgerschaft aberkannt und ein Auslieferungsverfahren eingeleitet wurde.

Der Mossad war durch eine neue Orientierung seit dem Sechstagekrieg abgelenkt. Ich bedaure das und hätte Mengele ein Ende wie Eichmann gegönnt.

Michael Seeger, Buenos Aires, 16. Februar 2025


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