Michael Seeger Rezensionen

Heinrich v. Kleist

Die Verlobung in St. Domingo (1811)

in: dtv (München 1964) HvK 4 H. v. Kleist Erzählungen, S. 146 -178

gelesen Februar 2024

Revolution und Liebe

Romantik und Blut: Die Erzählung führt mit hoher Spannung zurück in eine Zeit,
in der es poliische Korrektheit noch nicht gab.

Kleist ist Dramatiker durch und durch. So sind auch alle seine Erzählungen dem dramaturgischen Konzept der klassischen Tragödie verpflichtet. Was uns heute in atemloser Spannung hält und wie eine Kriminalgeschichte mit überraschenden Wendungen erscheint, ist vom kühl kalkulierenden Autor in einer streng strukturierten Fünft-Akt-Architektur strukturiert. Oberfächlich könnte man die Erzählung eine "Räuberpistole" nennen; dabei denkt der Rezensent an den zuletzt gelesenen dokumentarischen Kriminalroman von Axes Capus und freut sich darüber, wieviel besser uns der Klassiker Kleist am Plot fesseln kann.

Die Geschichte spielt in der Zeit der Französischen Revolution auf Haiti, wo es zum ersten Sklavenaufstand der Moderne gegen die französischen Kolonialisten kam. Die erzählte Verlobung ist eine "verbotene Liebe" zwischen dem Schweizer Offizier Gustav, der angesichts der vorrückenden "Negertrupps" in Lebensgefahr schwebt, und Toni, einer Mestizin (Kind einer Mulattin und eines Weißen). Congo Huango, "ein fürchterlicher alter Neger" (S. 146) ist ein diktatorischer Rebellenführer und Haustyrann. Er hat als zweite Frau die Mulattin Babekan gefreit und ihre Tochter Toni mit in sein Haus aufgenommen.
Es ist ein Rassenkampf, der in Santo Domingo (Haiti) tobt, und so sind es die Schattierungen der Hautfarbe, welche Loyalitäten stiften. So gesteht der von "bewaffneten Negerhafen" (S. 163) verfolgte Schweizer gegenüber der Mualattin und der Mestize, welche er um Asyl bittet: "Euch kann ich mich anvertrauen; an der Farbe eures Gesichts schimmert mir ein Strahl von der meinigen entgegen." (S. 150). Die fünfzehnjährige Toni und Gustav überkommt aus dem Nichts eine Liebeswallung und so ereignet sich unter allerlei Zärtlichkeiten heimlich "die Verlobung von St. Domingo". Ein Rettungsplan gegen die Negerhorden und den zu früh heimkehrenden Congo Huango wird geschmiedet, desavouiert, erneut modifiziert und wieder in Gefahr gebracht, dergestalt dass kurz vor der möglichen Rettung Gustavs dieser, "indem er sie eine Hure nannte" sein "Pistol ... knirschend vor Wut gegen Toni" (S. 175) abdrückt. Es ist eine tragische Verblendung wie bei Ferdinand in Schillers "Kabale und Liebe". Überhaupt scheint Kleist stark vom Dramatiker Schiller beeinflusst. In Gustavs Biographie gab es schon einmal eine Verlobte, die statt seiner aus Schaffott stieg, welches das Revolutionstribunal ihm zugemessen hatte. (S. 159). Da hört man doch DIE BÜRGSCHAFT klingeln.


Nachdem der durch Irrtum über ihren angeblichen Verrat geprellte Offizier die geliebte Toni also getötet hatte, "jagte Gustav sich die Kugel (...) durchs Hirn. ... Des Ärmsten Schädel war ganz zerschmettert, und hing, da er sich das Pistol in den Mund gesetzt hatte, zum Teil an den Wänden umher." (S. 177). Es ist die schlimme Katastrophe der klassischen Tragödie. Kleist aber entlässt das Publikum mit einer "höheren Versöhnung" (Hegel), indem Gustavs Vetter Strömli die Rettung der Familie vor den wütenden "Negern" gelingt. Er kann nach Europa zurückkehren und errichtet "in der Gegend des Rigi" seinem Vetter und "der treuen Toni" ein Denkmal im Garten. (S. 178).

Der arme Kleist aber, dem "auf Erden nicht zu helfen war", hat sich kurz nach der Niederschrift der Novelle am kleinen Wannsee auf die nämliche Weise wie Gustav das Leben genommen. ("das Pistol in den Mund gesetzt").

Heute im Kontext der herrschenden politischen Korrektnis liest sich der Text wie aus der Zeit gefallen. 62 Mal ist von "Negern" die Rede, von Bastardknaben, Mulatten, Mohrenland, Mestizen, Negenhaufen, Negertrupps usw. Zu Kleists Zeit war diese Sprachverwendung völlig normal. Jasmin Blunt aber müsste, falls Kleist Erzählungen einmal an Schulen Pflichtlektüre werden, wieder eine Petition diesmal gegen den Klassiker starten, wie sie es gegen Koeppens "Tauben im Gras" getan hat. Dem geschätzten Dichter Kleist aber könnte das nichts anhaben; denn "dem Mann kann geholfen werden" - durch unvoreingenommene Lektüre.

Michael Seeger, 15.02.2024

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