Michael Seeger | Rezensionen |
Marie Luise KaschnitzBeschreibung eines Dorfes (1965)Bibliothek Suhrkamp 645, Frankfurt/Main 1979, 106 S. ISBN 3-518-01645-8 (wieder) gelesen Februar 2024 Naturnah und dystopisch zugleichDer spröde Buchtitel tarnt die eher lyrische Sprache.Eine literarische Erkundungswanderung |
Märzenbecher am Steinzeitpfad - eine Spezies, welche die "Botanikerin" Kaschnitz unter all den Pflanzen nicht erwähnt
Als ehemaliger Bollschweiler habe ich das kleine Buch - quasi als Dorf-Vermächtnis - immer wieder gelesen. Jetzt war der Anlass meine Erkundungswanderung am Ölberg-Steinzeitpfad. Für Kaschnitz steht fest, "daß diese Höhlen die Zuflucht nacheiszeitlicher Jägerhorden waren". (S. 9). Nun, allzu groß können diese Horden nicht gewesen sein:
die größte der Steinzeithöhlen
Vom Steinzeitweg geht der Blick über die Reben nach Süden Richtung Staufener Bürg und weiter ins Rheintal mit den Vogesen am Horizont. >>>
"Ich werde die schönen Waldränder bekanntgeben, dann das Wiesenvorland, das Rheintal, die Vogesen, den Schweizer Jura und die Burgundische Pforte." (S. 11)
Die lyrische Prosaskizze atmet einen seherischen Geist, ist ein Sich-Vergewissern in der Geschichte, eine Mahnung an die Nachgeborenen, die bedrohte Humanität zu erhalten.
Kraft, Zuversicht und Hoffnung angesichts eher beklagenswerter Tendenzen ist das Wunder der Natur das über Geschichte und Gewalt zu trumphieren scheint.
An einem extrem steilen Kalksteinhang liegen diese Höhlen. Bequem war es da nicht, zumal die Temperatur vor 14.000 Jahren um 9 Grad kälter gewesen sein soll.
Überraschend sprießen unweit der Höhlen in einem ausgedehnten Feld Tausende von Märzbechern.
Der so genau beobachtenden und beschreibenden Kaschnitz ist dieses Blütenwunder sicherlich deswegen entgangen, weil sie - wie bekannt - körperlich eher unbeweglich war. Die Höhlen sind nicht leicht zugänglich.
Dass diese Märzenbecher jetzt schon im Februar in voller Blütenpracht stehen (>> Klimawandel), wäre für Kaschnitz' eher apokalyptische Haltung eine weiterer Baustein ihrer dystopischen Sicht gewesen. Endet ihre "Beschreibung" des Heimatdorfes doch mit dieser Passage:
"... wie im Bett der Straße ... wieder Wasser fließt, ein Strom, der einen See bildet, einen See, der aufsteigt bis zu den Höhlen der nacheiszeitlichen Jäger, den Löchern, in denen sich die Bewohner des Tales vor den Schweden versteckten .... von fremden Fischen umspielt. (S. 106)
Kaschnitz ist begeistert von der Vielfalt der Natur, bewegt von der Dichte der Geschichte, die hier mit dem Mantelsaum das Dorf gestreift hat, empathisch in der Erinnerung an bestimmte Menschen.
Michael Seeger, 19.02.2024
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