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Anthologie: "Kurzgeschichten"Kurzgeschichten und Gedichte Klasse 9 (1996), 43 S.
Im FahrstuhlDas Licht des gedrückten Knopfes erlosch, und die Tür des Aufzugs öffnete sich. Er trat ein, während er eine Falte aus seinem Jackett strich. "Möchten Sie auch in den achten Stock?", fragte eine Frau mit einem hässlichen Hut auf dem Kopf und einem Pudel an der Leine. "Elfter Stock", sagte er auf den Knopf mit der Elf drückend. Ihre roten Stöckelschuhe sahen furchtbar aus zur rosa Lackhandtasche. So etwas störte ihn. "Sie sieht aus wie ihr Hund", dachte er gerade, als ihm plötzlich in der anderen Ecke des Fahrstuhls, zwischen weiteren Mitfahrern, das Mädchen auffiel. Zunächst streifte sein Blick es nur flüchtig, doch dann musste er es länger anschauen. Ein seltsames Gefühl durchfuhr ihn. Er konnte seine Augen nicht mehr von ihr abwenden. Das Mädchen bemerkte dies, sah ihn kurz an, guckte jedoch schnell wieder weg. In diesem kurzen Moment aber, in dem sie ihn ansah, erstarrte er. Eine Erinnerung huschte durch seinen Kopf. Das musste sie sein! Er hatte ihr gegenüber gleich eine so seltsame Vertrautheit gespürt. Seit fünf Jahren, seit seine Frau sich von ihm getrennt hatte, hatte er nichts von seiner Tochter gehört, geschweige denn gesehen. Seine Frau hatte sich entschieden gegen jeglichen Kontakt zwischen Vater und Tochter gewehrt. So sehr hatte er sich gewünscht, sie einmal sehen zu dürfen, und jetzt stand sie mit ihm im selben Fahrstuhl. War denn das möglich? "Pussy, sitz, mein Schatz!", sagte die Frau mit dem hässlichen Hut zu ihrem Hund. Zweifel kamen in ihm auf. Bildete er sich das nicht ein? War da nicht der Wunsch der Vater des Gedankens? Nein, jetzt sah er nochmals ihr Gesicht, und er war sich nun ganz sicher. Auch wenn es schon lange her war, dass er sie das letzte Mal gesehen hatte: Sie war es. Glück stieg in ihm auf. War das nicht ein wunderbarer Zufall? "Nicht bellen, Pussy-Schatz, meine Süße, wir sind gleich da. Frauchen steigt sofort mit Pussy aus!". Der Pudel fing wie verrückt zu kläffen an. "Dieser schreckliche Aufzug macht sie nämlich immer ganz nervös, müssen sie wissen!" Er reagierte nicht auf die Frau mit dem hässlichen Hut. Warum hatte das Mädchen nicht auch ihn erkannt? Oder zeigte sie es nur nicht? Nein, es war einfach zu viel Zeit vergangen. Sie war ja noch so klein gewesen. Hoffentlich hatte die Mutter ihn nicht schlecht gemacht. Wie sollte er sie ansprechen?! Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und räusperte sich. Er wollte etwas sagen, doch kein Wort kam über seine Lippen. Er würde noch einen Augenblick warten. Er durfte jetzt nichts falsch machen, musste alles gut überlegen. Dies war eine einmalige Chance. Jetzt. Sie sah ihn an. Seine Knie wurden weich, und die Hände kalt und feucht. Sie hielt seinen Blick. Da lächelte er vorsichtig. Es sah komisch aus. Unsicher, so als hätte er es gerade erst gelernt. Er rückte seine Brille zurecht. Sie lächelte schüchtern zurück. Da konnte er die Spannung kaum noch ertragen. Hatte auch sie es bemerkt? Sie musste etwas gespürt haben. Es konnte kaum anders sein. Achter Stock. Der Fahrstuhl hielt. Die Frau tätschelte ihren Hund. "Komm, Pussy-Mäuschen! Mein Schatz darf aussteigen." Stöckelschuhe klapperten. Er war erleichtert, das Mädchen stieg nicht aus. Nun würde er den Mut fassen, sie anzusprechen. Oder würde sogar sie auf ihn zukommen? Da hörte er das Mädchen auf einmal sagen: "Hätten wir nicht raus müssen, Papa?" Er schreckte gedankenverloren auf. Da sah er den Mann. Er war ihm noch gar nicht aufgefallen. Er hatte nur Augen für das Mädchen gehabt. "Erst im zehnten Stock, Lisa, wann wirst du das endlich mal lernen!", hörte er den Mann sagen. Er nahm seine Worte kaum wahr. Die Stimme erschien ihm unwirklich, weit weg. Etwas, das sich innerhalb der letzten Sekunden in ihm aufgebaut hatte, brach zusammen. Die wenigen Worte dieses Mädchens, hatten seine Hoffnungen zerstört. Auf einen Schlag. Der Fahrstuhl hielt. Wie durch einen Schleier nahm er wahr, dass das Mädchen und der Mann Arm in Arm den Aufzug verließen. Da schloss sich die Tür. |
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