Nr. 1 /1. Jahrgang

Online-Sonderausgabe Montag, 19. September 1825

 € 2,50 / CHF. 3,80

 

Die raunende Beschwörung des Imperfekts

 

Sprache und Erzählperspektive Robert Schneiders — Ein Autor der Vormoderne?

 von Michael Seeger

„Als sie ihrem Seff riet, ...eine läufige Kuh möchte es (das Kind) zu Tode hornen, da schlug Seff ihr die Faust so gewaltig ins gottverreckte Maul, dass die Kinnlade auskegelte. (S. 41) Primitive Kraftsprache? Kunstvoll erfundener Tonfall verflossener Jahrhunderte, der höchste Authentizität verbürgt? An Robert Schneider scheiden sich mittlerweile, nachdem sein Debütroman „Schlafes Bruder“ auch dank der kongenialen Verfilmung Joseph Vilsmaiers ein Welterfolg ist, die Geister nicht mehr. 

Die Kritik, die auch die Kitsch-Karte gezogen hatte, ist einer Bewunderung, einer Verwunderung gewichen. Es ist schwer, das Wunder dieses unbedarft scheinenden Erzählens zu analysieren. Als hätte es die Zweifel der modernen Literatur nie gegeben, spricht der Erzähler vertraut von seinem „Helden“, tritt als Allwissender Erzähler in den Dialog mit dem Leser, „der uns ein guter Freund geworden ist“ (202), als gäbe es Thomas Manns ironischen Umgang mit dieser fiktionalen Übereinkunft nicht. Ein halbes Jahrhundert nach Döblin und Joyces sowie den Strapazen des „Nouveau Roman“ darf sich der Leser der Postmoderne wieder unbeschwert der „Lust am Fabulieren“ (Jens Sparschuh) hingeben. Diese Lust kompensiert die Defizite der Gegenwartsgesellschaft. 

Wenn wir lesen, wollen wir nicht die Banalitäten oder Überreiztheiten der Jahrtausendwende wieder erkennen. Wir sind bereit, uns nach Utopia entführen zu lassen. Wir folgen den großen Fabulierern durch Zeit und Raum und lassen uns auf ein fernes Land der Literatur ein. Wie Süßkind, Nadolny, Ransmayr, Eco oder Høeg liefert Schneider uns postmodern Übersättigten eine archaische Welt voller Kuriosität und Drastik. Der allgegenwärtigen Aufklärung überdrüssig vernehmen wir das Schlagen des zentralen menschlichen Organs, des Herzens. Wir leben die Höhen und Qualen des verkannten Genies J. Elias Alder mit. 

Die Suggestion, mit der Schneider seine Leser in einen tranceartigen Bann zieht, verdankt sich seiner Sprachvirtualität. Neben dem schon erwähnten Allwissenden Erzähler steht ein „personaler“, der geschickt mittels der „Erlebten Rede“ fast die Intensität einer Ich-Erzählung erreicht, indem er uns in das Innere der Figuren führt. Wo hat man schon einmal einen „inneren Monolog“ im Konjunktiv der indirekten Rede gelesen, wenn die „Ellensönin“ über die Unlust am Hebammenberuf sinniert? (16) Dann wieder tritt der Erzähler - ganz im Sinne der Authentizität - als trockener Chronist auf. 

Wir akzeptieren offensichtlich Stilbrüche, weil wir sie als Stilmischungen deuten: Neben „glaren“, „schrenzen“, „jellen“ steht soziologischer Jargon: „masochistisch“, „verpotenzieren“ ... Vielleicht ist der Erfolg des Romans auch einem literarischen Bruder des Elias A. zu verdanken: dem jungen Werther. Auch dessen Herz schlägt liebend unglücklich, auch der - ein Künstler - setzt seinem Leben selbst ein Ende. 

Wir „stehn betroffen“ und staunen.

home

 

 

 


 © 2002-2008 Michael Seeger, Faust-Gymnasium 79219 Staufen, Letzte Aktualisierung 03.11. 2008