Nr. 1 /1. Jahrgang

Online-Sonderausgabe Montag, 19. September 1825

 € 2,50 / CHF. 3,80

 

Gestraft von Gott!?

Ein Leben in nimmer enden wollender Qual

ein Psychogramm von Melissa Gößling

mg Beängstigende Stimme, gelbe Augen. Das waren nur wenige Leiden des Elias Alders. Sein Lebtag plagte er sich mit Beschimpfungen, Verachtung und Neid herum. Doch am Ende brachte ihn nur die Liebe ums Leben. Dem vermeintlich Schönsten im Leben fiel er zum Opfer und setzte schließlich seinem Leben ein qualvolles Ende.

Im dritten Jahr nach dem großen Feuer in Eschberg gebar die Seffin ihren zweiten Sohn Johannes Elias Alder. Damit sollte ein leidvolles und gleichzeitig geniehaftes Leben beginnen. Doch schon bei seiner Taufe versetzte Elias ganz Eschberg in Angst und Schrecken: das Baby hatte eine gläserne Stimme. So fing er in seiner Jugend an, an seiner Stimme zu feilen. Schließlich hatte seine Stimme einen so wohltuenden Klang, dass er sonntags in der Kirche die Epistelverkündungen übernehmen durfte. Doch immer noch war es den Eschbergern unangenehm, dem kleinen Elias zuzuhören, und so musste er bald dieses Amt aufgeben.

Als ob das nicht schon schlimm genug wäre, widerfuhr Elias mit 5 Jahren ein "Wunder". Es ist unfassbar, was ihm passierte, doch würde sich kein normaler Mensch wünschen, so etwas zu erleben, bedenkt man die Auswirkungen des "Wunders". Denn wer glaubte, dass Gott ihn doch schon genug gestraft hatte, der hat sich getäuscht. Die Frühpubertät, denn das war das "Wunder", machte sich in seinen nun gespenstisch gelben Augen und an seiner volltönigen Bassstimme bemerkbar. Doch, wie sich bald herausstellen sollte, Gott war immer noch nicht fertig mit ihm. Seine Eltern fürchteten sich nämlich so sehr vor ihm und verspürten eine so große Scham, dass sie beschlossen Elias in seinem Zimmer einzusperren. So lebte er nahezu seine ganze Jugend isoliert und vernachlässigt in seinem Zimmer. Ein Blick in Elias Inneres zeigt, dass er sich einsam und traurig fühlte. Oft geschah es, dass Elias lange weinte. "Ich habe mich sehr verstoßen und allein gefühlt. Da war es wundervoll Peter getroffen zu haben. Er war der erste Mensch, der sich meiner annahm.", erzählte Elias einmal. Doch Peter Alder, der Sohn von Elias Onkel, war so fasziniert von Elias damals, dass er beschloss mit allen Mitteln dessen Freundschaft zu erlangen. Dieser selbst war Peter so dankbar für die Aufmerksamkeit, dass er ihm bedingungslos gehorchte. Später wird deutlich, dass es sich nicht um reine Faszination handelte, sondern Peter Elias fanatisch liebte. Aber Elias ließ es auch noch im Erwachsenen-Alter geduldig über sich ergehen, denn er vergaß Peter die Treue zu ihm nie. Peter über Elias in einem Gespräch: "Ich habe Elias immer geliebt. Ich hätte alles für ihn getan. Er war wirklich ein wunderbarer Mensch." Aufgrund dieser innigen Liebe, weigerte sich Peter sein ganzes Leben lang, eine Frau zu ehelichen.

Aber die Liebe zu einem Mensche, die Elias wirklich beschäftigte, war eine ganz andere. Verfolgt man aufmerksam sein Leben, so kann man als Resümee sagen, dass Elias erfahren durfte, was wahre Liebe ist. Er hatte erkannt, was es heißt, "für einander bestimmt" zu sein. Er selbst drückte es damit aus, dass die Herzschläge der beiden Menschen zusammen gehören. Diese Beschreibung ist natürlich um einiges romantischer. Doch das kann man leider nicht von seinem Liebesleben sagen. Denn die Liebe machte ihn nie wirklich glücklich. Ganz im Gegenteil: es war die größte Qual seines Lebens. Denn so sehr wie er Elsbeth, Peters Schwester, liebte, musste er doch auch spüren, dass er sie nie bekommen würde. Doch warum trieb die Liebe ihn in den Tod? Eine kleine Episode aus dem Leben der Eschberger wird helfen:

Es begab sich zu jener Zeit, dass ein Schauprediger in das gottverlassene Dorf Eschberg einzog. Alsbald stand er nun auf dem Platz vor der Kirche und begann zu predigen. Er war der Überzeugung, dass die Apokalypse nahe und deshalb jeder Mann und jede Frau jene und jenen begehren soll, den er möchte. Und dies solle der Mensch Stunde um Stunde, ja Minute um Minute tun, denn wer schlafe, der liebe nicht.

Dieser Schauprediger ging Elias Zeit seines Lebens nicht mehr aus dem Kopf. Vergeblich versuchte er sich dazu zu bringen, Elsbeth seine Liebe zu offenbaren. Elsbeth gab später zu, dass sie ihn gerne geehelicht hätte, wenn er nur

was gesagt hätte. (Lesen Sie dazu die Briefe S. 9) Und so geschah wieder ein wahrhaft unglaubliches Ereignis. Als Elias den Schmerz und die Qual nicht mehr ertrug, ging er eines Nachts in die Kirche und klagte Gott an. Da erschien ihm Gott als kleines, nabeloses Kind.

"Ich traute erst meine Augen kaum, doch dann konnte ich diese unheimliche Kraft spüren, die von dem Kind ausging und ich wusste, dass ich mich nicht geirrt hatte: ich sah Gott." So veränderte sich Elias wohl schon zum zweiten Mal in seinem Leben entscheidend.

Seine Augenfarbe bekam das Regengrün wieder, doch das wichtigste war: er liebte nicht mehr. Man möchte meinen, dass Elias darüber glücklich war, doch es herrschte eine so unbeschreibliche Gleichgültigkeit in ihm, dass er erst wieder bei einem Orgelspiel in Feldberg erwachte. Da erkannte er, dass er Elsbeth nicht aufgehört hatte zu lieben, sondern sie immer noch in seinem Herzen trug. Auf dem Weg zurück nach Eschberg fasste er einen grauenvollen Entschluss. Er erinnerte sich an die Worte des Schaupredigers und wollte nicht mehr schlafen, um so Elsbeth seine Liebe zu zeigen. Um wach zu bleiben, aß er Tollkirschen, die Blätter des Stechapfels und Narrenpilze. Zeuge dieses qualvollen Selbstmordes war nur sein Freund und heimlicher Verehrer Peter.


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S. 8-10 Psychologie heute

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Was ist Liebe?

Gibt es Liebe im Dorf Eschberg?

Eine ehemalige Bewohnerin steht Rede und Antwort.

Ein Interview von Stefania Colléggio

sw/red. Eine alte Frau, deren verblasstes Gesicht noch Spuren ihrer Schönheit aufweist, betritt vorsichtig das Café, in dem wir uns treffen. Suchend blickt sie sich um, ich winke ihr zu. Ihre rauen Hände drücken meine Hand nur vorsichtig.

C: Elsbeth, wie sind Sie in Esch berg aufgewachsen? Wurden Sie mit viel Liebe erzogen?

E: Eschberg war ein Dorf weitab von der Realität, der Gegenwart und der Zukunft. Meine Eltern und auch deren Verwandten haben mich nie mit viel Liebe erzogen. Wir in Eschberg kennen dieses Wort nicht, es wurde und wird nie ausgesprochen. Nur eine rote Katze, die ich sehr früh wieder verlor, liebte ich und sie liebte mich.
 
C: Und Sie haben nie wirklich erfahren, was Liebe zwischen zwei Menschen ist, wie sie sich anfühlt?
 
E: Doch, einmal. Ein Junge namens Elias rettete mich aus den Flammen, ab diesem Zeitpunkt spürte ich eine bestimmte Nähe.
 
C: Sind Sie sich sicher, dass das wahre Liebe war?
 
E: Ich habe damals nie eine Definition des Wortes Liebe erhalten, doch heute bin ich überzeugt, dass es Liebe war!
 
C: Wieso war? Lebt Ihr Mann Lukas nicht mehr?
 
E: Natürlich, doch ich empfinde für ihn nicht die reine und wahre Liebe, wie ich es vielleicht für Elias empfinden würde.
 
C: Also haben Sie doch eine Vorstellung, was reine und wahre Liebe ist?
 
E: Ja, heute weiß ich das und ich schätze meinen Mann auch sehr, er behandelt die Tiere immer gut und er hat mir sechs wundervolle Kinder geschenkt. Ich liebe meine Kinder, ich will ihnen ersparen, was ich einst in meiner Kindheit erleben musste.

C: Wer war es, den sie damals so sehr liebten?

E: Der Junge, der mich aus dem Feuer gerettet hat. Er war schon viel weiter als ich, mein Bruder erzählte mir vor einiger Zeit, dass er mich schon sehr liebte als ich erst sieben war. Ich empfand immer etwas für ihn, und erst als ich das 17. Lebensjahr erreicht hatte, verstand ich, was er meinte, wenn er sagte, wir wären gleicher Art und unsere Herzen wären verbunden.
 
C: Diese Liebe kam nie zu Stande?
 
E: Nein, mein Bruder hatte einen anderen für mich ausgesucht. Sicherlich hätte ich sofort zugestimmt, hätte mich Elias damals gefragt, ob ich sein Weib werden wolle. Doch er wagte es nie und ich wollte meine Gefühle nicht preisgeben, weil ich mir seiner Gefühle nicht sicher war.

Stichwort

Was ist eigentlich ...?

Wahn

Von Dr. Hiqueny  Miudraque, 

Arzt für Psychiatrie und med. Psychologie

dm Wahn ist eine Störung des Erlebens der Wirklichkeit. Es gibt bis jetzt jedoch keine allgemein akzeptierte Definition. Trotzdem geht man davon aus, dass es eine objektiv falsche, aus krankhafter Ursache entstehende Überzeugung ist, die ohne Anregung von außen entsteht, und trotz vernünftiger Gegenargumente aufrecht erhalten wird.

Wahn teilt sich in Urteilen mit, ist aber keine Störung des Denkens, denn das Denkvermögen und das Vermögen zu urteilen bleibt erhalten. Im Gegenteil, der Wahn benutzt diese Fähigkeiten geradezu, denn die aus Wahneinfällen hervorgehenden Wahnideen werden mit unerschütterlicher Gewissheit festgehalten und trotz nachweisbarer Unmöglichkeit nicht beeinflusst.

Prinzipiell ist Wahn immer ein Grundphänomen der Verrücktheit gewesen und wird vielfach mit geistiger Erkrankung gleichgesetzt. Hierbei muss man bedenken, dass bei der Feststellung von Wahn eine Reihe von phänomenologischen Kriterien beobachtet werden muss.

Und genau diese machen meistens den „Sinn im Wahnsinn“ aus.

 

 

Briefe, die nie geschrieben wurden ...

ast Vor kurzer Zeit wurden in dem abgebrannten Dorf Eschberg, in einem Keller, der vom Feuer verschont wurde, folgende zwei Briefe gefunden, die über die Gefühle des berühmten Musikers Elias und seiner großen Liebe Elsbeth Aufschluss geben.

Meine liebste Elsbeth,

mein Brief wird dich wohl sehr verwundern, aber ich habe beschlossen, dass es nun endlich an der Zeit ist, dir mein Herz zu öffnen. Schon seit frühester Kindheit verzehrt sich mein Herz nach dir. Lange konnte ich schweigen, denn ich dachte, es sei besser, wenn du von meiner Liebe nichts wüsstest. Was kann dir ein gelbäugiger junger Musiker schon bieten?
Im Alter von fünf Jahren hörte ich an dem großen Stein am Fluss, den ich dir einmal zeigte, das Schlagen deines noch ungeborenen Herzens, später, als du zu einem hübschen Fräulein herangewachsen warst, habe ich oft deine Nähe gesucht. Ich kam zu euch, um angeblich Peter zu besuchen , aber in Wahrheit wollte ich dich sehen. Du warst schon damals ein sehr schönes, sehr zartes Fräulein , ich war, ich bin in dein Antlitz verliebt. Aber nicht nur dein Äußeres, dein Lachen, deine ganze Art bringt mein Herz in Aufruhr.
Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem ich dich aus den Flammen rettete?
Dein Herz auf meinem, du warst noch so klein, aber trotzdem wusste ich seit diesem Augenblick, dass ich dich für immer lieben werde.
Darum, liebste Elsbeth, bitte ich dich um ein Gespräch, natürlich nur, wenn du dies möchtest.
Du sollst wissen, dass ich dich in keinster Weise mit meinen Gefühlen bedrängen will.

Dein dich liebender Elias


Lieber Elias,

deinen Brief habe ich erhalten, und was soll ich sagen, ich war so überrascht, dass mein Herz ganz wild zu pochen begonnen hat. So lange habe ich auf eine Reaktion, auf ein Liebesgeständnis von dir gehofft. In so mancher Nacht habe ich wachgelegen, an dich gedacht und konnte meinen Blick in meinem geistigen Auge nicht von dir wenden.
Jedes Mal, wenn du den Peter besuchen kamst, hoffte ich dich anzutreffen – ein Wort mit dir zu wechseln oder dich ganz einfach nur aus der Ferne zu beobachten.
Aber die Zeit scheint gegen unsere Liebe zu sein, denn vor ein paar Tagen hat mir Lukas einen Heiratsantrag gemacht und ich stimmte zu, da ich nie und nimmer gedacht hätte, dass du mich wirklich liebst und ich meinen Eltern und meinem Bruder nicht länger auf dem Hof eine Last sein wollte.
Jetzt weißt auch du, dass ich dich liebe, doch es ist zu spät! Es tut mir in meinem Herzen so unsäglich weh, aber die Vernunft hat entschieden.
Ich wünsche dir, dass du mit einer anderen glücklich wirst, mich aber dennoch im Herzen behältst, so wie ich dich.

In ewiger Liebe, deine Elsbeth.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Peter im Alter von 7 Jahren

Bild: Stefanie Widera

 

 

 

 

 © 2002-2008 Michael Seeger, Faust-Gymnasium 79219 Staufen, Letzte Aktualisierung 03.11. 2008