Nr. 1 /1. Jahrgang

Online-Sonderausgabe Montag, 19. September 1825

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Das verkannte Genie 

oder wie man in Eschberg einen Musiker zugrunde richtete

von Christine Weinig

Ein zweiundzwanzigjähriger, hochbegabter, am Beginn einer glänzenden Karriere stehender Musiker ging jüngst in den Freitod. Der Tod war ein langer, ein qualvoller. Er erstreckte sich über acht Tage und acht Nächte und bestand darin, dass das Genie, und um nichts weniger handelte es sich bei diesem Menschen, sich jeglichem Schlaf entzog, Tollkirschen, Stechäpfel und Narrenpilze einnahm, um wach zu bleiben und schließlich leblos in den Seilen hing, mit denen er an eine Esche gebunden war.

Sein Name war Johannes Elias Alder. Im vorarlbergischen Eschberg wurde er 1803 geboren und wuchs dort ohne jegliche elterliche Zuwendung auf. Seine Mutter sperrte ihn gar zwei Jahre lang in den Gaden, weil sie sich seines sonderbaren Aussehens und Verhaltens wegen schämte. Dieses Kind war zweifelsohne nicht wie andere, sein Körper wies bereits mit fünf Jahren Pubertätsmerkmale auf, seine regengrünen Augen hatten sich auf rätselhafte Weise in stechend gelbe, beklemmende, weil so ungewöhnliche Augen verwandelt. Die einzigartige, unbeschreibliche Stimme des Jungen, sein perfektes, aufs Äußerste empfindliche Gehör, seine Fertigkeit, Orgel zu spielen, ohne je eines Lehrers bedurft zu haben, mehr noch, sich auf der Orgel, überhaupt in der Musik so vollendet ausdrücken zu können, wie es überhaupt nur sehr wenige Menschen können, die ganze geniale Musikalität machten aus ihm einen Menschen, wie es ihn in Eschberg nie gegeben hat und wie er auch sonst seinesgleichen sucht.

Elias als 5-Jähriger am wasserverschliffenen Stein

Was aus der Ferne wie ein Wunder erscheint, geradezu wie eine Verheißung, dieser Mensch sei dazu auf der Erde, Großes zu vollbringen, eine über alle Grenzen hinausgehende Existenz zu führen, es musste in Eschberg, diesem abgelegenen, schwer zugänglichen, von Eschwäldern eingeschlossenen Weiler Entsetzen, Angst und Unverständnis hervorrufen. Gerade in diesen eigenartigen kargen Landstrich in Vorarlberg – von dem man weiß, dass bis in unsere Tage hinein Pfarrer von Haus zu Haus gehen, Musikinstrumente einsammeln, um sie dem Feuer zu übergeben oder den Tanz und das fröhliche Beisammensein zu verbieten suchen – dort hinein, in die den Menschen dort eigene abergläubische, beinah bigotte Frömmigkeit wurde ein Genie geboren, als sei es nur dazu bestimmt, an der stumpfen Grausamkeit seiner Umgebung zu zerbrechen. Eine Umgebung, die unter einer hauchdünnen frömmelnden Oberfläche durchdrungen war von Hass, Laster, Neid und Gier, die eine alte kranke Frau auf den Scheiterhaufen zerrte, sie folterte, einmal gar ein Feuer in der Kirche legte, anschließend den Sündenbock beinah zu Tode hetzte und ihn dann verbrannte, eine Umgebung, die vor Gewalt, vor außerehelichen und gar vor Pfaffenkindern nur so strotzte und in der sich Trunksucht und Verderbnis die Hand reichten, diese musste einen fühlenden, einen bis in den Grunde seines Herzens tief fühlenden Menschen wie Elias zugrunde richten.

Die Empfindsamkeit seines Wesens, der verzweifelte Versuch, inmitten der Lieblosigkeit zu lieben, die göttliche Begabung Elias‘ wurde mit Füßen getreten. Die Unmöglichkeit der Liebe zu seiner Cousine Elsbeth, die außer Stande war, Elias' unbeschreibliche Liebe zu ihr zu erwidern, die außer Stande war, sich aus dem Eschberger Sumpf zu ihm emporzuschwingen, trieb Elias unausweichlich in den Wahn, der das kurze Leben mit einem unfassbar selbst verachtenden Freitod auslöschte.

Diese Sonderausgabe von Schlafes Bruder liefert die Fakten und Hintergründe zu den außergewöhnlichen und traurigen Begebenheiten im Weiler Eschberg und gibt Einblicke in das Leben eines verkannten und mit allen Mitteln unterdrückten Genies.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 © 2002-2008 Michael Seeger, Faust-Gymnasium 79219 Staufen, Letzte Aktualisierung 03.11. 2008