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Ein Dachboden erzählt ... |
Während der Besichtigung einer alten Kavalleriekaserne, die in einem der ärmsten Viertel Berlins liegt, fanden wir einen Dachboden vor, der die Geschichten vieler Menschen erzählen kann. Ein ehemaliger Theaterdirektor hat sich hier seine eigene Theaterwelt mit alten Kostümen und Requisiten aufgebaut.
Knarrend öffnet sich die Luke. Staubige Dunkelheit empfängt uns. Langsam gewöhnen sich unsere Augen ans schummrige Licht und schattenhaft unheimliche Gestalten zeichnen sich um uns herum ab. Der Schein unserer Taschenlampen zerreißt die Dunkelheit und lässt nur ein paar finstere Winkel übrig, in die sich kreischend Ratten und Mäuse retten.
Wir zünden eine alte Öllampe an und der Raum wird in seichtes Licht gehüllt. Nun können wir Türen ausmachen, die in weitere Kammern führen. Auf dem Stehpult, das links von uns steht, liegen Tinte, Federn und andere Utensilien. Wie in einer mittelalterlichen Waffenkammer reihen sich Rüstungen und Waffen an den Wänden. Jetzt fallen uns Photographien über dem Stehpult auf, die an frühere, erfolgreichere Zeiten des Direktors erinnern. An Kleiderhaken hängen Kostüme verschiedener Länder und Epochen. Eine dicke Staubschicht überzieht die Kleider - schon lange standen sie nicht mehr im Rampenlicht- und einzig die Motten können ihnen noch etwas abgewinnen. In einer Wasserflasche und einigen Gläsern auf dem Tisch spiegelt sich das Licht wider. Das allein lässt erkennen, dass sich hier der Direktor hin und wieder aufhält.
Wir versinken in dieser fremden Welt, und plötzlich erzählt uns der Dachboden seine Geschichten: Ich wurde 1800 erschaffen, um Waffen menschlicher Krieger zu beschützen. Doch immer häufiger nutzten die Menschen die Stille in mir dazu, Pläne zu schmieden, finstere Intrigen zu spinnen und Pakte mit dem Teufel zu schließen. Hier haben Soldaten ihren Rausch ausgeschlafen; hierher hat man Mädchen verschleppt, egal ob anständig oder nicht, um ihnen Gewalt anzutun, und hier hat so mancher sein Blut und sein Leben gelassen, während es drunten hoch her ging. Doch dann wurde es ruhig. Die Menschen gingen und die neuen Bewohner hielten Einzug. Sie kamen in Scharen und der schweflige Nachgeschmack, den all die Gräueltaten hinterlassen hatten, war für sie wie ein gemachtes Nest. Der Pesthauch des Bösen hielt mit ihnen Einzug und langsam, ohne dass es irgendjemand außer mir merkte wurde es ihr Reich - kleine pelzige Bösewichte mit heimtückischen Äuglein und rasiermesserscharfen Zähnen - Ratten.
Jetzt hält sich hier hin und wieder menschliches Leben auf, doch es ist krank. Wahnsinnige, kranke Gehirne, die hinter einer bürgerlichen Fassade verfaulen und die im Reich der Ratten häufig gesehene Gäste sind. Abgewrackte Menschen, die alles Sinnvolle in ihrem Leben verloren haben und sich in diese fremde Welt flüchten. Ab und zu treffen sich hier Liebespaare, die Heimlichkeit dieses Ortes nutzend, und kurze Zeit wird der Dunst der Verderbnis von der Frische und Energie der Liebenden überlagert. Doch schon wenig später kriecht das Böse wieder aus seinen fauligen, finsteren Winkeln und seine Präsenz wird selbst für Menschen spürbar.
Das Licht flackert kurz auf und erlischt dann. Wir versinken in Dunkelheit. Wie aus einer Trance schrecken wir auf und knipsen fast panisch die Taschenlampe an. Mit einem Schaudern verlassen wir eilig den Dachboden. Uns fröstelt und wir wissen, dass der Dachboden noch so manches Geheimnis birgt, das wohl nie aus seinen grausigen Schatten ans Tageslicht kommen wird.
© 1999-2022 Michael Seeger, Faust-Gymnasium Staufen, letztes Update 14.02.2022