Nr. 1 /1. Jahrgang S. 2

Online-Sonderausgabe 18. Mai 1632

€ 2,50    

 

Mutter Courage

Zwei Seelen in einer Brust 

Anna Fierling: einerseits dreifache Mutter und 
andererseits berechnende Geschäftsfrau

von Ann-Cathrin Seifert

"Sie ist eine Hyäne des Schlachtfelds!"

So, oder ähnlich wird Anna Fierling, alias Mutter Courage von vielen Menschen bezeichnet.
Die ca. 50-jährige Marketenderin zieht mit ihrem Planwagen ständig den Gefechten des Dreißigjährigen Kriegs hinterher, um ihren Nutzen aus dem Krieg zu ziehen und geschäftlich zu profitieren.
Sie selbst sagt zu den Vorwürfen, sie habe Haare auf den Zähnen und würde das Leid der anderen ausnutzen, nur spöttisch und ein bisschen vulgär, wie es ihre Art ist, "In dem Krieg ist noch allerhand für uns drin!"
Zum Thema Frieden machte die knallharte Geschäftsfrau Anna Fierling sofort mit Aussagen, wie zum Beispiel "Ich halt nix von Friedensglocken!" oder "Der Frieden bricht mir das Genick!", schnell deutlich, dass sie eine Person mit sehr ego- und geschäftsorientiertem Denken ist.
Doch erstaunlicherweise hat die mittelalterliche Business-Lady auch eine weiche, warmherzige Seite, die sie leider selten zeigt und vor allem vor ihren drei Kindern zu verbergen versucht.
Vor allem ihr Standpunkt gegenüber Krieg und Frieden scheint sich vollständig zu ändern, sobald sie in ihre Mutterrolle eintaucht. Dann nämlich hört man aus ihrem Munde keine zwei Minuten später Sätze wie beispielsweise "Ich bin froh übern Frieden, wenn ich auch ruiniert bin!"
Des weiteren ist die dreifache Mutter, die in ihrer Rolle als Geschäftsfrau keinen Platz für eigene Kinder hat, und so die Sprösslinge lediglich als Objekte und nicht als fürsorgebedürftige Wesen betrachtet, sehr besorgt und stolz auf ihre Kinder.
Leider kann sie wie eben schon kurz erwähnt, ihre mütterlichen Gefühle nur selten durch Liebkosungen oder aufmunternde, direkte Worte zeigen.
Ihr ältester Sohn, Eilif, der für das kaiserliche Heer im Krieg kämpft, ist ihr, wie sie im Interview verriet, "der Liebste von allen wegen seiner Kühn- und Klugheit".
Ihren zweiten Sohn namens Schweizerkas, der im Übrigen als treuer Zahlmeister während des Krieges von feindlichen Soldaten hingerichtet wurde, nannte die Mutter "redlich aber dumm". Trotzdem hatte die Courage während des dreitägigen Friedens eine stille Gedenk-Andacht im Gottesdienst geplant. Doch schnell wendete sich das Blatt: „Es ist nix mit der Kirch, stattdem geh ich aufn Markt.“


Das Sorgenkind der Mutter ist jedoch ihre jüngste Tochter Kattrin, die schrecklicherweise seit dem Kleinkindalter stumm ist. Brutale Misshandlungen durch einen Lebensgefährten der Mutter sind die Ursachen dafür. Kattrin trägt ebenfalls eine Narbe auf der Wange, die von einem Überfall herrührt.
Aufgrund dieser beiden Anschläge, an denen Anna Fierling eine große Mitschuld trägt, macht sie sich Vorwürfe. Sie fragt sich oft im Stillen, was in Kattrins Kopf vor sich geht und was sie Schreckliches erlebt haben muss. 
Auch Kattrins ausgeprägte soziale, selbstlose und mütterliche Wesenszüge kann Anna Fierling nur schwer verstehen und nachvollziehen.
Trotz ihrer Mitschuld am Schicksal ihrer Kinder wird Mutter Courage sehr geachtet und respektiert. In dieser Epoche, in all der Not und dem Leid die Familie und das Geschäft erfolgreich und ohne große Einschränkungen durchzubringen, ist wirklich beachtenswert.

Illusionen der Mutter Courage
Wie Feuer und Wasser - 
die Courage und ihre Tochter

 

 

Anna Fierling als Händlerin: möglichst viel für einen Kapaun rausschlagen!

Illusionen der Mutter Courage

Sie erkennt bis zum Schluss nicht das wahre Gesicht des Krieges

von MAREN PAUTSCH

"Die Courage lernt nichts!"  B. B.

 
„Mutter Courages Ziel ist es, ihre Kinder durch den Krieg zu bringen. Sie versucht aus jeder Situation zu verdienen, was ihren Kindern zum Verhängnis wird und im Endeffekt auch ihr selbst. Ihr ältester Sohn Eilif wird zum Kriegsdienst überredet, als sie gerade mit einem Verkauf beschäftigt ist, und wird später hingerichtet, weil er unwissend während der Kriegspause bei einem Bauern einbrach. Der gewissenhafte Schweizerkas wird entdeckt, als er die Regimentskasse seinem Heer wiederbringen will. Seine Mutter ist selbst während der Verhandlungen über das Leben ihres Sohnes noch geizig und kommt mit ihrem Geld zu spät. Die stumme Kattrin, die ihre Mutter immer als nutzlos angesehen hat, hat ein gutes Herz und erträgt das Leid nicht, von dem sie und ihre Mutter leben. Sie opfert sich für andere Menschen, indem sie eine Stadt warnt, die vom Feind umzingelt ist - währenddessen hat die Mutter geschäftlich in der Stadt zu tun. Die Courage erkennt nicht, was es bedeutet, dass im Krieg alle Tugenden tödlich sind. Sie zeigt ihre wahren Gefühle nicht, sondern unterdrückt sie, um ihre Geschäfte und auch ihre Kinder zu schützen. Jedoch: „Ihr Händlertum hält sie für Muttertum, aber es zerstört ihre Kinder, eines nach dem anderen.“ (Brecht, 1956)

„Ich muss wieder in Handel kommen!!“

Mutter Courage - realistisch denkende Heldin des Dramas - ist am Ende die große Verliererin. Während dem Leser klar wird/werden soll, dass die kleinen Leute im Krieg nichts gewinnen können, hegt sie weiterhin die Hoffnung, Geschäfte zu machen und schließt sich sofort dem nächsten Regiment an. 
Brecht macht in seinem Kommentar deutlich, dass dies die „bitterste und verhängnisvollste Lehre des Stückes“ sei. „Mutter Courage glaubt an den Krieg bis zuletzt“ und lernt nichts, was von Brecht auch durchaus so gewollt war: dadurch soll den Lesern die Botschaft des Stückes noch einmal deutlicher gemacht werden: Es soll eine Warnung sein- und auch eine Prophezeiung: „Die Menschen lernen nichts aus dem Krieg!“ Der Krieg sei nichts als eine “Fortführung von Geschäften mit andern Mitteln“ und kleine Leute könnten nichts am Krieg verdienen, da sie die Objekte der Großen sind. Leider könnten sie das aber nicht einsehen, sondern betrachteten es als Schicksal. Wichtig sei zu erkennen, dass „für die Bekämpfung des Kriegs kein Opfer zu hoch ist.“

BRECHTS PROPHEZEIUNG TRITT EIN

Bertolt Brecht schrieb das Drama vor dem 2. Weltkrieg. Allerdings reichte es nicht mehr für die Warnung, die Brecht hatte aussprechen wollen, da „die Bühnen viel zu schnell in den Händen des großen Räubers waren.“ Bei der deutschen Erstaufführung im zerstörten Berlin 1949 waren die Menschen verwundert, wie viel Brecht hatte voraussehen können.
Damals glaubten die Menschen, sie hätten aus dem Krieg gelernt. Sie sahen den Krieg so, wie es Brecht vorausgesehen hatte, und sahen so auch die Mutter Courage: Sie sahen deren Leid und Verlust lediglich als eine Wiedergabe ihrer eigenen Schicksale an und verstanden nicht, warum die Courage nichts gelernt haben sollte. „Der Hitlerkrieg war ein schlechter Krieg gewesen, und jetzt litten sie.“ Das wiederum bestätigte ebenfalls Brechts Ansichten: wie wenig die Leute von dem Stück aufgenommen hatten.

AKTUALITÄT DES DRAMAS

Gerade deswegen bleibt das Stück auf die heutige und jede andere Zeit übertragbar: zwar ist der Krieg, für den Mutter Courage geschrieben wurde, vorüber, aber es werden nach Brechts Meinung immer neue kommen. „Die große Menge ist nicht für Krieg. Aber es gibt so viele Mühsale. Könnten sie nicht doch durch einen neuen Krieg beseitigt werden? Hat man nicht doch gut verdient im letzten, wenigstens bis knapp vor dem Ende? Gibt es nicht auch glückliche Kriege?“

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wie Feuer und Wasser - 

die Courage und ihre Tochter

von BENJAMIN SCHALK

Woher soll man wissen, was im Kopf einer Stummen vorgeht? Mit dieser Frage beschäftigt sich auch Mutter Courage, ohne allerdings ernsthaftes Interesse dafür aufzubringen. Dieser Gedanke ist jedoch für den Verlauf der Geschichte nicht ganz unerheblich. Wenn die Courage gewusst hätte, wie ihre Tochter wirklich denkt, wäre die Sache vielleicht ganz anders ausgegangen. So bleiben die Gedanken von Kattrin für ihre Mutter allerdings bedeckt, und so wird sie letztendlich erschossen. Hätte sie ihrer Mutter sagen können, was sie über den Krieg und die Welt im allgemeinen denkt, wäre sie wahrscheinlich gar nicht erst mit auf diesen Bauernhof gekommen. Dann hätte Courage gewusst, dass Kattrin nicht unbedingt gewillt ist, ihr ganzes Leben mit ihrer Mutter auf der Landstraße zu verbringen. Vielleicht hätte sie auch gewusst, dass Kattrin vom Krieg überhaupt gar nichts hält, der die Lebensgrundlage für sie beide ist. Wie sie allerdings darauf reagiert hätte, kann man sich höchstens in Gedanken ausmalen. Wahrscheinlich wäre sie wütend aufgefahren und hätte ihrer Tochter vorgehalten, dass sie ohne den Planwagen nie allein überleben könnte. Es hätte auch sein können, dass sie einen ihrer verständnisvollen Augenblicke gehabt, und dann mit Kattrin einen Kompromiss ausgehandelt hätte, wie z. B. einen Esel zu kaufen, um den Wagen zu ziehen. Bei schlechter Laune hingegen hätte sie Kattrin wohl einfach mehr oder weniger ignoriert, wie sie es schon so oft getan hat. So muss die Stumme sich also darauf beschränken, entweder zu versuchen, sich mit Gesten verständlich zu machen (bei der Courage kein leichtes Unterfangen), oder einfach nur still dazusitzen bzw. den Wagen zu ziehen. Am Schluss bekommt Kattrin doch noch ein anderes „Image“ angehängt: Das der selbstlosen Märtyrerin für die gerechte Sache. Indem sie den Befehlen der Soldaten zuwiderhandelt und weitertrommelt, um die bedrohte Stadt aufzuwecken, kann sie am Ende ihren wahren Charakter zeigen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

© 2005-2022 Michael Seeger, Faust-Gymnasium 79219 Staufen, Letzte Aktualisierung 06.04.2022