Und wieder ein Gedenkjahr

Badische Zeitung vom Mittwoch, 12. Januar 2005 

LEITARTIKEL 

Von Bettina Schulte

Im Gedenkritual steckt auch eine Chance:
dem Mythos näher zu treten und einmal genau hinzuschauen 

Das Gedenken kann zur Qual werden. Oder mindestens zur lästigen Pflichtübung, zur politisch oder ökologisch oder kulturell korrekten Alibiveranstaltung. Es kommt mit rituellem Mediengetöse daher und verpufft folgenlos. Gerade erst haben wir in Baden-Württemberg das Mörike-Jahr hinter uns - landauf landab ließ man zu Ehren des 200. Geburtstags des Lyrikers in Hunderten von Veranstaltungen das "Blaue Band" flattern; schon kündigt sich das viel größere und natürlich auch viel nationalere Schillerjahr an. Die Maschine ist schon wieder heftig angelaufen.

Konzertierte Aktionen allerorten sind geplant, wenn sie nicht dank medialem Wettkampf um das Recht der ersten Berichterstattung im berühmt-berüchtigten "Vorfeld" von Schillers 200. Todestag am 8. Mai bereits hinter uns liegen. Rüdiger Safranskis schon jetzt als Standardwerk gefeierte Biografie des Dichters ist seit Sommer 2004 auf dem Markt. Weitere Lebensbeschreibungen folgten auf dem Fuße. Der Südwestrundfunk hat eine groß angelegte Reihe zum Werk Schillers praktisch schon wieder zu den Sendeakten gelegt. Die Verlage haben fleißig Weihnachtskarten mit Schiller-Konterfei verschickt.

Schiller ist natürlich Sternchenthema beim baden-württembergischen Abitur 2005. Und heute macht die Bundesregierung auf einer Pressekonferenz im hellen Schein von Schillers "kämpferischem Humanismus und seiner Idee von der Freiheit" das Gedenken an den vom Schwaben zum Weimaraner aufgestiegenen Goethe-Freund zu ihrer ureigenen Sache. Mit von der Partie: die Staatsministerin für Kultur, die Kulturstiftung des Bundes, das Deutsche Literaturarchiv Marbach, das im Schiller-Nationalmuseum selbstredend die größte Schillerausstellung aller Zeiten vorbereitet, der eine weitere Schau in Weimar korrespondiert. Beide Annäherungen an den Dichter werden selbstverständlich über Kreuz ausgetauscht - auf dass Anfang und Ende im Leben Schillers sich in Vitrinen aufs Schönste runden möge.

Keine Frage: Das kulturelle Erbe ist im wiedervereinigten Deutschland angekommen. Die (organisierte) Schillerbegeisterung, die im nationalen 19. Jahrhundert 1859, dem 100. Geburtstag, ihren rauschhaften Höhepunkt erlebte, scheint einem neuen Gipfelpunkt zuzustreben. Wer auch (außer Goethe) eignete sich besser als der stets auf knallige Effekte bedachte Dramatiker, die Deutschen in Wallung zu versetzen? Welcher Dichter gibt mehr vielseitig einsetzbare Zitate her als der Verfasser des "Don Carlos", des "Wallenstein" und des "Tell"? Und welche Gesinnung wäre edler und erhebender als die des Kämpfers gegen alle Tyrannei ("Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!"), gerade in diesen wenig heldenhaften, von den Zwängen der Ökonomie und der Globalisierung niedergedrückten Zeiten?

Auf der anderen Seite aber steckt im Gedenkritual auch eine Chance: dem Mythos, dem Abziehbild, der Ikone einmal wieder näher zu treten und genau hinzuschauen: Wer war er, und was ist er uns heute, dieser Friedrich Schiller, der Zögling des württembergischen Herzogs, Militärarzt, Deserteur, Universalhistoriker, Stückeschreiber, wenn schon nicht Begründer, dann doch wenigstens Betreiber des deutschen Idealismus, Protagonist der Weimarer Klassik und Vater von vier Kindern, die er mehr schlecht als recht zu ernähren wusste, wobei ihm auch eine Geschichtsprofessur in Jena nicht half, da sie unbesoldet war? Ist er möglicherweise der erste moderne Autor gewesen - auch im Hinblick auf Selbstvermarktungsstrategien? Sollte es sich nicht lohnen, ihn mal wieder zu lesen? Ist in "Kabale und Liebe" vielleicht mehr zu entdecken als ein Rührstück über die fatalen Folgen von Standesgrenzen?

Wenn das Schiller-Jubiläum uns jenseits von Sonntagsreden und Bildungshuberei dazu verführen könnte, einen neuen, unverbrauchten Blick auf den Schriftsteller zu werfen, der mit eisernem Willen gegen seine schwache Physis anging, Freiheit gegen Notwendigkeit setzte, wäre einiges gewonnen. Wenn nicht: Das nächste Schiller-Jahr kommt bestimmt. 2009 steht sein 250. Geburtstag an.

© 2005 Badische Zeitung Freiburg, 12. Januar 2005  mail an organisator