Faust-Gymnasium Staufen > Geschichte > Narratio

 

Michael Tocha

„Von Literaten lernen“: Zwei Modelle für die Geschichtserzählung [1]

Die Geschichtserzählung wird wieder entdeckt, ja sie hat Konjunktur. Bei der Erörterung der historischen Imagi­nation gelangt Gerhard Henke-Bockschatz zu dem Schluss, es müsse auch über die Rolle der Geschichtserzählung neu nachgedacht werden.[2] Im selben Horizont bewegen sich Überlegungen im Zusammenhang mit der Frage nach der „Zukunft der Erinnerung“ an die Epoche des Nationalsozialismus angesichts der Tatsache, dass die Zeitzeugen sterben. Hier hat Norbert Frei vorgeschlagen, den Kontext von Tradition und Erinnerung auch mit einer neuen Ge­schichtserzählung zu bewahren, die Anschaulichkeit und Komplexität nicht als Gegensätze begreift und die nach dem Intellekt auch die Emotionen anspricht[3]. Man besinnt sich also auf die spezifischen Leistungen einer auch erzählenden Darstellung der Geschichte. Erzählende Texte bewirken Erinnerung in des Wortes ursprünglicher Be­deutung: Sie erzeugen innere Bilder, machen Personen und Ereignisse vorstellbar. Nur wer sich etwas vorstellt, kann sich in die Lage anderer versetzen und mitfühlen – nur auf der Grundlage bildhafter Vorstellungen sind über zeitliche Distanzen hinweg Identifizierung und Empathie möglich. Jener Prozess des Erinnerns aber ist kein bloß individueller, sondern immer auch ein gemeinschaftlicher. In der Gesellschaft wie im Geschichtsunterricht erwarten und verlangen wir, dass die Mitglieder wesentliche Geschichten kennen – etwa was Menschen unter dem Nationalsozialismus getan oder erlitten haben. Erst wenn jemand die kognitiven, emotionalen und pragmatischen Inhalte solcher Erzählungen zu seiner Verfügung hält und bei Bedarf aktualisieren kann, sprechen wir ihm Bildung und Geschichtsbewusstsein zu.[4] Erst wenn Menschen dergestalt am sozialen Gedächtnis teilhaben, können sie sich den Fragen ihrer eigenen Gegenwart stellen – dies insbesondere in einer politischen Kultur wie der unseren, die sich in hohem Maße über den kritischen Umgang mit den Sonderwegen und Katastrophen der Geschichte defi­niert.

Wird die Gattung zu Recht auch wieder geschätzt, so bleibt doch manches ungeklärt. Eine Frage lautet, was denn eine Geschichtserzählung eigentlich sei. Die zitierten Meinungen lassen vermuten, dass historisches Erzählen in einem allgemeineren Sinne gemeint ist. Jedenfalls hat der Begriff eine Tendenz, sich auszudehnen, so dass er die historische Anekdote, aber auch Roman und Spielfilm, den knappen Bericht, aber auch ausgedehnte Oral-history-Projekte umgreift. Im Hinblick auf den Unterricht erscheint es zweckmäßig, ihn auf den kürzeren Text zu beschränken, der dort mündlich, als Lehrererzählung, oder schriftlich, als erzählende Quelle vorkommt. In dem vorliegenden Beitrag werden dennoch auch längere Formen des Erzählens insoweit in die Betrachtung einbezogen, als sie Modellcharakter für die Geschichtserzählung im engeren Sinne haben können.

Eine andere Frage lautet, in welcher Form und Ausgestaltung die Geschichtserzählung im Unterricht verwendet werden sollte. Seit den 70er Jahren, als die Kritik einsetzte, ist stets gefordert worden, es müsse eine offene Geschichtserzählung geben, die dem Verdacht der Indoktrination entgehe und alle Ansätze zu Geschichtsbildern zugleich mit deren Entstehen wieder aufhebe.[5] Die alte heimelige und glättende Erzählung habe der in sich gebrochenen, mehr­perspektivischen und verfremdenden Erzählung zu weichen.[6] Die Didaktik müsse sich daher mit den distanzierenden Erzählformen auseinander setzen und sie für den Unterricht fruchtbar machen. In der glatten Oberfläche des Erzählten seien Bruchstellen für kritische Eingriffe zu schaffen, Angriffspunkte, bei denen das Fragen nach der Richtigkeit oder Angemessenheit ansetzen und von wo aus von Seiten des Schülers eine Art Kontrolle stattfinden könne.[7] Dabei dürfe „von  Literaten gelernt werden“; die im 20. Jahrhundert entstandenen Formen des Erzählens böten spannende Einsatzmöglichkeiten im Unterricht.[8] Solche Forderungen wurden oft und gern wiederholt, eine Konkretisierung blieb aber zunächst aus. Dann ist bei dieser Aufgabe wieder Rolf Schörken vorangeschritten, indem er untersucht hat, inwieweit die Erzähltechnik Peter Härtlings für den Geschichtsunterricht nutzbar gemacht werden kann.[9] Diesen Ansatz möchte der vorliegende Beitrag weiterführen und zwei literarische Modelle skizzieren, die auf dem noch langen Weg zu einer Typologie des Erzählens im Fach Geschichte die Richtung weisen könnten.

Die Erzählung mit „aufgerauter“ Oberfläche

Wie man das Medium „aufraut“ und verfremdet, ihm die Bruchstellen und Angriffspunkte zufügt, die für nötig gehalten werden, damit auch der Schüler die intellektuelle Kontrolle behält, könnte der Geschichtslehrer außer bei Peter Härtling auch bei Dieter Kühn lernen. Beide Autoren sind sowohl in ihrer Hinwendung zur Biographie als auch in ihrer Darstellungstechnik miteinander vergleichbar. Kühn ist zudem als Übersetzer mittelalterlicher Literatur hervorgetreten. Für die Biographik setzt er neue Maßstäbe, indem ein verändertes Interesse am Gegenstand und als Konsequenz eine andere Erzähltechnik entwickelt hat. Geschichtsphilosophisch beruht sein Schreiben auf dem Bewusstsein, dass wir nicht mehr mit linearen Modellen  operieren können; die Idee einer teleologisch, auf ein sinnerfülltes Ziel hin fortschreitenden Geschichte wird aufgegeben. Vielmehr sind historische Situationen, Geschichte in ihrem aktuellen Vollzug, offen für mehrere Möglichkeiten. Erst im nachhinein mag sie als quasi natur- oder schicksalhafter Prozess erscheinen. Diese sich aufdrängende Eindeutigkeit des Ablaufsinnes post eventum muss der Biograph, der Historiker, auflösen und zurückverwandeln  in die Vielheit der Möglichkeiten.[10]

Dieser veränderte erkenntnistheoretische Ansatz hat weitreichende Konsequenzen auf der ästhetischen Ebene. Fragwürdigkeit und Vorläufigkeit des Gegenstands spiegeln sich in der Art seiner Darstellung: Der Autor legt den Weg der Erkenntnis wird offen, er markiert deutlich die Grenze zwischen Fiktion und Fakten. Er verzichtet auf die klassische allwissende Erzählerrolle, stellt vielmehr aus verschiedenen Perspektiven dar und bekennt sich auch zur eigenen Subjektivität.  Die formale Geschlossenheit des Texts wird aufgebrochen; narrative und diskursive Text­passagen wechseln ständig miteinander ab und gehen ineinander über. Ähnlich wie bei Härtling sind auch die Texte Kühns gespickt mit Wendungen wie „Ich entwerfe“, „Wir wissen nicht“, „Ich vermute, und habe ja schon den Grund für die Vermutung genannt“[11]; rhetorische Fragen sind gängiges Stilmittel. Der Leser wird eingeladen, sich auf biographische oder historiographische Planspiele einzulassen, die das Phantasiepotential wecken könnten - in Kühns Worten: „Ausprobieren konkreter Situationen; Alternativbeurteilung; Entscheidungsüberlegungen; Zielvorstellungen; Probierverfahren.“ Der geschichtstheoretische Ansatz und der entsprechende Schreibstil hätten somit eine Funktion bei der Selbstbesinnung des Lesers und könnten seine Ich-Autonomie stärken.[12]

Seine Methode der durchbrochenen Erzählung bringt Kühn in der Einführung zu seinem Parzival des Wolfram von Eschenbach auf einen Begriff: „Bei dem Versuch, mich Wolframs Zeit anzunähern, wähle ich als Schreibmethode das Szenario. In einem Szenario wird zukünftiges Geschehen entworfen; diese Darstellungsmethode wende ich an zur Beschreibung von Vergangenheit. Das Szenario hat - gegenüber dem historischen Roman - den Vorteil: es schließt Reflexion ein. Was berichtet, was probiert und erzählt wird, kann jederzeit durchbrochen werden.“[13] Wie ein Szenario gestaltet werden kann, lässt er den Erzähler in einem Gespräch mit einem Hotelier in Bonn darlegen: „Mehr als 750 Kilometer trennen meinen Eifel-Wohnsitz von Wolframs Eschenbach, mehr als 750 Jahre trennen mich von Wolfram aus Eschenbach, und daraus ergibt sich die Gedankenbewegung einer Raum-Zeit-Reise ... zu Wolfram in Eschenbach. ... Jeder Kilometer, den ich in Richtung Eschenbach reise,  bringt mich Wolfram ein Jahr näher, verstehen Sie? .. . Damit diese Reise ge­lingt, habe ich [mein Gehirn] mit vielen Informationen gefüllt. ... Fragen, Erörterungen - sie wer­den uns begleiten in den Kapiteln zu Wolframs möglicher Biographie. ... Ich komme mir vor wie ein Archäologe, der einige Fundstücke vor sich liegen hat, die er nicht zuverlässig einordnen ... kann, der trotzdem eine Rekonstruktionszeichnung versucht:  eine Skizze mit Vorbehalten und auf Widerruf.“[14]

Nicht verschweigen darf man die kritischen Stimmen, die diese Schreibmethode herausgefordert hat. Noch zu­rückhaltend sind Fragen wie die, ob nicht die Kraft der historischen Imagination leide, wenn die didaktischen Ab­sichten so herausgestellt werden - oder was eigentlich das Publikum am individuellen Suchprozess und an der subjektiven Verarbeitung interessiere.[15] Als 1996 Kühns Biographie der Clara Schumann erschien, stellte eine Kriti­kerin fest: „Was Kühn im einzelnen über Clara Schumann - und das ,Panorama des 19. Jahrhunderts’ - zu sa­gen weiß, will man ei­gentlich [gar] nicht wissen. ... Kühn ist Kölner und als solcher eine hoch­begabte Plauder­tasche. ... Diesmal feiert er auch noch wortreich sich selbst und ... den Prozess des Schreibens vor den Augen sei­ner Le­ser. Breitet die Zutaten aus: Nehmen wir hiervon eine Prise, davon ein Löffelchen? Erläutert: Die­ses Kapitel wird jetzt kürzer, weil... Das lasse ich jetzt mal weg, weil... . Und so salbadert das fort und fort, einen ganzen Ab­satz lang. ... Man ist nach fünf Mi­nuten Lektüre pappsatt.“[16] Dass unsere Schüler ebenso reagieren wie die zitierte Kritikerin, diese Möglichkeit ist nicht von der Hand zu weisen: dass die Erzähltechnik des Szenarios sie „nervt“, sie ermüdet und ihre Imaginationskraft lähmt. Auch die Didaktiker sind keineswegs alle überzeugt. So hat kürzlich Wolfgang Hasberg die entsprechenden Vorschläge Schörkens für unzweckmäßig erklärt, und zwar mit bedenkenswerten Argu­menten. „Es kann ... nicht darum gehen, Geschichtserzählungen mit ,kritischen Brüchen’ eigens für den Unter­richt zu konzipieren, es muss darum gehen, durch die glatte Oberfläche in sich abgerundeter Geschichten hindurch zu den ihnen immanenten Brüchen vorzudringen.“[17] Der Schüler soll lernen, sich mit Geschichtserzählungen durch­aus auch traditioneller Machart kritisch auseinander zu setzen.  Hasberg begründet sein Konzept damit, dass in sich geschlossene Geschichtsdeutungen ständig auf den Schüler einstürmen – im Fernsehen, im Internet, im Ju­gendbuch, in der Heimatgeschichte. Daher müsse gelernt werden, gegenüber dem offerierten Sinnangebot Triftig­keitsvorbehalte zu machen und es zu überprüfen. Gerade auch die geschlossene und glatte Geschichtserzählung sei dafür geeignetes Material. Sie gibt keine Auskunft über die Vergangenheit, sondern muss als Konstrukt über diese selbst zum Gegenstand der Reflexion werden. Man lernt nicht aus ihr, sondern an ihr – nämlich historisches Den­ken durch den methodischen Umgang mit ihr. Die Schüler fragen, ob das erzählte Geschehen denkbar sei. Mit den Antworten tasten sie sich  nicht nur an die faktischen Grundlagen heran, sondern erkennen auch die fiktionalen Anteil und die Absicht der Erzählung.[18]

Solche Einwände wiegen schwer, weil sie mögliche Probleme der Rezeption ebenso wie die grundsätzliche Frage nach dem Zweck des Erzähleinsatzes betreffen. Trotzdem spricht einiges dafür, der Härtling-Kühnschen Geschichtserzählung im Unterricht mehr Raum zu geben und sie systematisch weiter zu entwickeln. Aus den genannten theoretischen wie pädagogischen Gründen kann die Kluft zwischen dem literarischen und dem didaktischen Erzählen nicht so groß bleiben, wie sie bisher meist noch ist. Kühns und Härtlings Technik bleibt reizvoll, weil sie gerade im Medium der Erzählung eine Vorstellung davon vermittelt, dass Geschichte ein gedankliches Konstrukt ex post und das Ergebnis einer komplexen und oft auch mühseligen Rekonstruktionsarbeit ist. Der Schüler, der in diesen Horizont einbezogen wird, muss sich nicht zunächst, wie in Hasbergs Konzept, dem Sog einer erzählerischen Sug­gestion entziehen, sondern kann aus gewahrter Distanz Perspektiven und Methoden in das weitere Verfahren ein­bringen.  Allerdings sollte dieser Typ der Erzählung nicht mündlich, als Lehrererzählung, vorgetragen werden – die Schüler könnten damit überfordert sein, die Nuancen der Reflexion im einmaligen Hören aufzunehmen. Sie sollte vielmehr schriftlich ausgehändigt und dann bearbeitet werden. Hier eröffnet sich Raum für weitreichende Schüleraktivität, die nur angedeutet sei: die eigentliche „story“ herauspräparieren und nach- oder umerzählen - Wissenstand und Perspektive des Erzählers beschreiben - wertende Stellungnahmen als solche erkennen, begrün­den oder widerlegen - Leitfragen und Problemhorizonte für weiterführende Recherche entwickeln, usw.

Die Erzählung mit immanenten Brüchen

Hasberg erinnert daran, dass auch die vermeintlich glatte und abgerundete Erzählung ihre inneren Brüche auf­weist. Diese können z.B. als psychologische Unstimmigkeit, falsche oder fehlende Kausalität oder inhaltliche Leer­stellen erkannt werden. Sie wären dann als Unvollkommenheiten zu bewerten, die der Ergänzung und Korrektur bedürfen. Für anspruchsvolle moderne Literatur gilt aber umgekehrt, dass der Autor von vornherein mit Brüchen arbeitet und sie in der Tiefenstruktur seiner Erzählung anlegt – sie wären damit ein Ausweis literarischer Qualität. Vielleicht stellt dieser Zugriff heute für bestimmte Themen der Geschichte vielleicht sogar die einzige Möglichkeit dar, davon überhaupt noch glaubwürdig zu erzählen. Der Erzählungsband Existenzbeweise[19] der polnischen Auto­rin Hanna Krall kann diese These auf beeindruckende Weise belegen. Er handelt von jüdischen Menschen im heu­tigen Warschau, die mit ihrer Vergangenheit während der Naziherrschaft konfrontiert sind. In der Erzählung Ohne Erinnerung z.B. suchen Fünfzigjährige, die bei polnischen Eltern aufgewachsen sind, in einem Jüdischen Historischen Institut in Warschau nach Spuren ihrer Identität. In mühseliger Kleinarbeit,  Indiz um Indiz, finden die alt gewordener jüdischen Kinder zu dem, was sie einmal waren und was dann geschehen ist. Zusammengehal­ten werden die Bruchstücke nur in der Figur der Archivarin des Instituts; sie bringt die nötigen Informationen bei, soweit vorhanden; sie vermittelt Kontakte mit Menschen in den USA und Israel, die weitere Auskunft geben könnten.

Auf Kralls Erzählweise trifft zu, was Walter Benjamin als die Merkmale der „wahren Erzählung“ beschrieben hat: Sie erklärt nichts. Das Außerordentliche wird genau erzählt, aber der psychologische Zusammenhang wird dem Leser nicht aufgedrängt. Es ist ihm freigestellt, sich die Sache so zurecht zu legen, wie er sie versteht. Die „keu­sche Gedrungenheit, welche sie psychologischer Analyse entzieht“, empfiehlt sie dem Gedächtnis umso nachhalti­ger an – je natürlicher der Verzicht auf psychologische Schattierung, desto größer ihre Anwartschaft im Gedächt­nis des Hörenden, desto vollkommener bildet er sie seiner eignen Erfahrung an.[20] Auch bei Krall wird nichts er­klärt. Sie ist nie klüger als die Menschen, die ihr Leben erzählen. Ihr Stilmittel dafür ist die ästhetische Reduktion. Sie erzählt perspektivisch, aber ohne festlegende Wertung, anrührend und ergreifend, aber ohne Lenkung der Af­fekte der Leser durch ein Zuviel an Schilderung oder Kommentierung, historisch-chronistisch, aber ohne Entfal­tung erklärender Zusammenhänge. Unsentimental, schmucklos, lakonisch, mit nüchternem Realitätssinn lässt sie die Archivarin die Spuren des Leidens registrieren und ordnen. Die recherchierten Fakten werden lapidar, oft gleichförmig parataktisch festgehalten. Kritiker haben beobachtet, dass ihre Sätze von Werk zu Werk immer knapper werden. Man spürt, dass Krall viele Jahre als Reporterin gearbeitet hat.[21]

Im Vergleich zu Kühn treten die Eigenheiten von Kralls Erzählweise noch deutlicher hervor. Anders als Kühns Szenario haben Kralls Erzählungen kein erzählendes „Ich“, das die Nahtstelle zwischen der Realität des Leser und der imaginierten Welt besetzt und zwischen beiden vermittelt. Kein Moderator, kein Lotse benennt und kommen­tiert, wie bei Kühn, die Mühen auf dem Weg der Erkenntnis. Vielmehr sind Ungewissheiten, Brüche und leere Stellen in die Erzählung selbst hineingenommen. Es gibt keinen einlinigen Fluss des Erzählens, keinen durchge­henden „plot“, sondern nur ineinander verknäuelte Bruchstücke, die sich nur zäh zu einem Zusammenhang fügen. Kralls Erzähltechnik ist die Collage. Aber in dieser Collage sind nur die Ränder besetzt, die Mitte bleibt sozusagen ein großer dunkler Fleck: Sie beschreibt nicht die Vernichtung, sondern das, was vorher war und was nachher kam. Nur von den Rändern her fallen einzelne dünne Lichtstrahlen auf das Ungeheuerliche. Sie können es nicht durchdringen, es bleibt unausgesprochen und unaussprechlich. Gerade dadurch nimmt es die Wucht und die alles begreifbare Maß übersteigende Bedrohlichkeit an, die es hatte und hat. Vielleicht ist dies die einzige Weise, ein Geschehen darzustellen, das angemessen gar nicht beschrieben und auch nicht erklärt werden kann. Es verdichtet sich in den „Nebensachen“ (wie Krall selber sie bezeichnet) – ein Wehrmachtssoldat gibt einem Säugling, einem Windelpaket im Dreck der Straße, in einem unbeobachteten Moment die Flasche; ein blonder Junge, den seine jü­dische Mutter im letzten Augenblick in einen Vorortzug hat setzen können, fährt stundenlang allein zwischen den Endstationen hin und her. Was für Bilder, welche Szenen! In ihnen blitzt die Erfahrung der Beteiligten auf und springt über auf die Unbeteiligten. „Der Erzähler“, schreibt Walter Benjamin, „nimmt, was er erzählt, aus der Erfahrung; aus der eigenen oder berichteten. Und er macht es wiederum zur Erfahrung derer, die seiner Ge­schichte zuhören.“[22] Hanna Kralls Geschichten leisten genau das: den Erfahrungslosen ein Wissen anzubieten, Erfah­rung durch literarische Modelle zu ermöglichen, die hilft zu begreifen, was Menschen widerfahren ist und von Menschen angetan wurde. Aber sie liefert diese Erfahrung eben nicht in passender Aufbereitung oder mit auf­dringlicher Leserlenkung, sondern sie bietet dem Leser nur Bruchstücke, die er wieder und immer  wieder anders zusammensetzen kann und muss. Die collagierten Ereignisse und Szenen sind „Denkbilder“, die den wissenden, zumindest den urteilsfähigen, weniger den „stoffhungrigen“ Leser voraussetzen. Sie provozieren in hohem Maß Nachdenken und Nachfühlen; damit eröffnen sie den Weg in eine imaginierte Vergangenheit, von der her Gegen­wart und Zukunft vielleicht wissender gesehen werden, weil der einzelne Mensch als Opfer oder auch Täter in konkreten politisch-historischen Kontexten begriffen und ernst genommen wird. Daher liegen Absicht und Sinn dieser Geschichten gerade nicht, wie bei Kühn, in der kritischen Distanzierung, sondern im Gegenteil durch die Brüche der Erzählstruktur hindurch in der empathischen Annäherung und Aneignung. Der Geschichtsunterricht bedarf auch solcher Erzählungen: Mag ihr Beitrag zu einem reflektierten Begriff von Geschichte als methodischem Konstrukt auch gering sein, so ist doch ihre Funktion für Geschichtsbild und Wertebewusstsein der Jugendlichen hoch zu veranschlagen.

Praktische Folgerungen

Es sollte gezeigt werden, dass es Modelle von Erzählungen gibt, die nicht überwältigen, die vielmehr mit ihren Brüchen und leeren Stellen formal wie inhaltlich offen sind und dadurch den „Stachel der Nachdenklichkeit“ in sich selber tragen. Es gibt nicht nur ein, es gibt mehrere Modelle solcher Erzählungen. Sie sollten noch systemati­scher als bisher und vor allem in Zusammenarbeit mit Literaturwissenschaftlern und  -didaktikern gesichtet und auf ihre Anwendbarkeit im Geschichtsunterricht untersucht werden. Dies wäre eine Voraussetzung für den nächs­ten und entscheidenden Schritt: Geschichtserzählungen konkret zu entwerfen und zu schreiben, die den gefunde­nen Kriterien entsprechen. Darin liegt sicherlich auch eine Aufgabe für die Lehrer in ihrer alltäglichen Praxis, ebenso für die, die Lehrer ausbilden. Aber nicht jeder Lehrer, nicht jeder Fachleiter am Seminar ist so (K)ühn, Er­zählungen auf einem derartigen Anspruchsniveau selbst zu konstruieren. Hier müssen Verlage und Autoren aktiv werden. In die jeweiligen Sammlungen müssen viel mehr Geschichtserzählungen mit „aufgerauter Oberfläche“ aufgenommen werden. Auf diesem Gebiet herrscht großer Nachholbedarf.

Die Frage liegt nahe, ob wir, anstatt Kühn oder Krall zu imitieren, nicht öfter zurücktreten und sie in ihren eige­nen Texten, ebenso wie viele andere - Ruth Klüger, Imre Kertesz  oder Roman Frister, um nur diese zu nennen -  selber zu Wort kommen lassen sollten. Aber dann sprengt der Anspruch, anspruchsvoll zu erzählen, die Rahmen­bedingungen eines bescheidenen Zwei-Stunden-Faches. Daher bietet es sich in letzter Konsequenz an, die engen Grenzen des Geschichtsunterrichts aufzubrechen und die Zusammenarbeit mit anderen Fächern zu intensivieren. Hier kommt naturgemäß in erster Linie das Fach Deutsch in Frage, aber auch der Literaturunterricht in den Fremdsprachen.[23]

[1] Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf dem 43. Deutschen Historikertag in Aachen, Sektion 6.6 des SWL, 28. September 2000. Veröffentlicht in Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer, Heft 61/2001, S. 104-111

[2] vgl. Gerhard Henke-Bockschatz: Überlegungen zur Rolle der Imagination im Prozess des historischen Lernens, in: GWU 51, 2000, S. 429

[3] Norbert Frei: Abschied von den Zeitgenossen. Erbantritt – Nationalsozialismus und Holocaust im Generationenwechsel, in: Süd­deutsche Zeitung, 9. Sept. 2000, S. 18

[4] Hans-Jürgen Pandel, Zur Genese narrativer Kompetenz, in: Bodo v. Borries u. H.J. Pandel (Hrsg.): Zur Genese historischer Denkformen. Jahrbuch für Geschichtsdidaktik 1993/94, Pfaffenweiler 1994,  S. 99 ff. 

[5] vgl. Uta Wernicke: Zur Praxis der Geschichtserzählung in der Mittelstufe, in: GWU 21, 1970, S. 501

[6] Henke-Bockschatz: Imagination, S. 429

[7] Rolf Schörken: Historische Imagination und Geschichtsdidaktik, Paderborn 1994, S. 119, 126

[8] Hans-Peter Goldberg: Die Geschichtserzählung – eine geheime Verführerin oder pädagogischer Mythos?, in: Informationen für den Geschichts- und Gemeinschaftskundelehrer H. 49/1995, S. 29

[9] Das Aufbrechen narrativer Harmonie. Für eine Erneuerung des Erzählens mit Augenmaß, in: GWU 48, H. 12, 1997, S. 732

[10] vgl. Helmut Scheuer: Nachwort. N – Dieter Kühn und die Geschichte, in: Dieter Kühn: N, Stuttgart 1995, S. 130 ff.

[11] z.B. Dieter Kühn: Der Parzival des Wolfram von Eschenbach, Frankfurt: Insel, 1986, S. 57 ff.

[12] vgl. Scheuer: Nachwort, S. 147

[13] Kühn: Parzival, S. 70

[14] ebd., S. 11, 53

[15] vgl. Bodo v. Borries: Imaginierte Geschichte. Die biografische Bedeutung historischer Fiktionen und Phantasien, Köln 1996, S. 144 f.

[16] Eleonore Büning: Gewimmel, Getümmel, Gedrängel. Vor hundert Jahren starb Clara Schumann, und immer noch kreisen die Geier, in: Die ZEIT Nr. 22, 24. Mai 1996

[17] Wolfgang Hasberg: Geschichte in Geschichten, in: Waltraud Schreiber (Hrsg.): Erste Begegnungen mit Geschichte, Neuried 1999, S. 483

[18] vgl. ebd. 489 ff.

[19] dt. Frankfurt/M. 1995

[20] vgl. Der Erzähler, S. 40 f.

[21] vgl. Verena Auffermann: Ich bin nur eine. Wie Hanna Krall jüdische Biografien aufspürt und rettet, in: Süddeutsche Zeitung, 25. Nov. 1999

[22] Der Erzähler, S. 37

[23] Für das Fach Englisch liegt ein erster Projektentwurf vor: Gunther Volk: Die deutsche Geschichte (1933-1945) und ihre Fol­gen im Spiegel anglo-amerikanischer Literatur der Gegenwart, in: Lehren und Lernen 26, H. 2, Febr. 2000, S. 3-14

Michael Tocha tocha.vs@gmx.de


© 2003-2004 Oberschulamt Freiburg; Mail an Webmaster  Letzte Aktualisierung 05.04.2004