Fächerverbindender Unterricht -

die pädagogische Antwort auf die Globalisierung

 

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 

ob wir nun aus St. Etienne oder aus Staufen im Breisgau kommen, ob wir in Paris, in Berlin oder in Lyon zusammentreffen, ob mich Andrea Schäfers E-Mail aus Lyon oder aus Auxerre erreicht, uns ist längst klar geworden, dass wir in einem "Global Village" leben. Schüler wachsen noch viel selbstverständlicher in dem Bewusstsein auf, dass sie im Zeitalter des globalisierten Wandels leben.

Einige Kennzeichen dieses Zeitalters sind:

·        Vergrößerung des Informationsangebots

·        Immer kürzere Zeiten, in denen das Wissen sich verdoppelt

·        Allseitige Vernetzung

·        Schwierigkeit der individuellen Orientierung

·        Komplexität der modernen Probleme (Ökonomie-Ökologie-Technik-Ethik) 

Was ist das Ziel schulischer Bildung in diesem Zeitalter?

Sinnvoll ist es, die jungen Menschen

·        in die Grundstrukturen dieser modernen Welt einzuführen,

·        so dass sie morgen in ihr effektiv arbeiten und

·        sich verantwortlich orientieren können. 

Problemlösungsstrategien in der modernen Gesellschaft, deren Hauptkennzeichen die Vernetzung ist, können eigentlich nur interdisziplinär vonstatten gehen.

Dabei gibt es keine "glatten" Lösungen mehr. Was angestrebt werden kann, sind allenfalls Optimierungen im Zusammenspiel der einzelnen Glieder. Lösungsstrategien laufen nicht mehr über den Typus "richtig" und "falsch", sondern über den Typus der Güterabwägung. Im interdisziplinären Gespräch ist der Einzelne schnell überfordert. Der Einzelne muss notwendigerweise mit Vertretern anderer Disziplinen zusammenarbeiten, deren Grundbegriffe kennenlernen ihre Ergebnisse in den eigenen Wissenshorizont integrieren. Teamorientierung ist gefragt.

Was für die moderne Gesellschaft als ganzes und für die Wissenschaft gilt, hat auch für die Schule seine Berechtigung. 

Was machen wir eigentlich in der Schule? Wir versuchen, den Jugendlichen Orientierung in der Welt zu ermöglichen. Kennen Sie den Aphorismus

 "Wir unterrichten nicht Fächer, sondern Menschen!" 

Schnell wird hier jeder Pädagoge nicken. Wenn Sie diesem Grundsatz auch zustimmen, haben Sie neben den gesellschaftlichen Gesichtspunkten bereits eine didaktische Relevanzbestimmung für den fächerverbindenden Unterricht gegeben.

Bevor wir näher darauf eingehen, sollten wir eine Begriffsbestimmung durchführen. In der älteren Didaktik wurde der Begriff fächerübergreifender Unterricht verwendet. Ich bevorzuge den Begriff Fächerverbindung. Der Fächerübergriff suggeriert ein Verlassen des eigenen Faches und gleichzeitig einen Exkurs in ein anderes Fach, in dem man sich dann als Laie tummelt. Bei der Fächerverbindung kommt es gerade auf die vorhin angesprochene Vernetzung an.

Um die Überlegungen aus der Reflexion über die moderne Gesellschaft wieder aufzunehmen, könnte man sagen: 

Fächerverbindung ist die pädagogische Antwort auf die Globalisierung. 

Voraussetzung für Fächerverbindung bleibt selbstverständlich ein solider Fachunterricht. Wenn man von den eigentlichen Schlüsselproblemen des Millenniumszeitalters ausgeht (Waldsterben, Treibhauseffekt, Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, ABC-Waffen, Biomedizin, Medientechnik, Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit, Gerechtigkeits- und Sicherheitsprobleme, BSE, MKS etc), muss man eigentlich die Fächerverbindung zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften fordern. Die meisten Gymnasien haben aber keine eingeübten Infrastrukturen und tragfähigen Vertrauensverhältnisse zwischen den beiden "Kulturen" der Natur- und Geisteswissenschaften. Auch ich selbst bin in diesem Schuljahr zum ersten Mal in die Fächerverbindung mit den Naturwissenschaften vorgestoßen. („Dolly und die Folgen“. Eine Begegnung von Natur- und Geisteswissenschaft in Fragen der Gentechnik). Die Stufe darunter, also etwa die Verbindung der geisteswissenschaftlichen Fächer Deutsch und Geschichte kann aber sehr wohl als "Einstiegsdroge"  in diesen Komplex fungieren.

Seien wir also eine Spur realistischer und bescheidener und sprechen fortan von Möglichkeiten und Grenzen einer Verbindung der Fächer Deutsch und Geschichte an französischen und deutschen Schulen. Ich kann zu den deutschen Schulen, speziell denen in BW etwas sagen, Sie können den Transfer zum französischen Schulwesen leisten.

Nicht nur die Fächergrenzen sind zu überschreiten, auch die Unterrichtsorganisation bedarf einer Neubestimmung. Wenn die großen Herausforderungen der Moderne nicht mehr vom Einzelnen souverän und "glatt" gelöst werden können, folgt daraus ein Postulat nach Verstärkung der teamorientierten Arbeitsformen. Teamfähigkeit ist eine entscheidende Schlüsselqualifikation für die Zukunft. Lehrkräfte, die nichts als individuellen Frontalunterricht beherrschen, können ihre Schüler schwerlich zu Teamfähigkeit führen. Die Lehrkräfte selbst haben also ihre Teamfähigkeit zu entwickeln. Dies geschieht z B auf Tagungen wie dieser.

Neben curricularen Vorschriften und Empfehlungen ( Þ Bildungsplan Baden-Württemberg) ergeben sich Themen für Fächerverbindung aus der Vorbereitung der Lehrkraft, dem kollegialen Gespräch, dem lokalen Impetus (Jubiläum/Fest etc.), der Anregung von Schülerseite. Ein Baustein dieser Tagung wird der Themenfindung zwischen Ihnen vorbehalten sein.

Im interdisziplinären Gespräch bewegen wir uns in einer Hierarchie. Im eigenen Fach sind wir Experte, im Fachgebiet des anderen Laie und umgekehrt. Ich halte es nicht für sinnvoll, völlige Gleichheit der kooperierenden KollegInnen anzustreben, sondern gerade aus der Unterschiedlichkeit evolutionäre Kraft zu schöpfen. Bewährt hat sich, Initiative, Organisation und Gesamtleitung bei einem Leitfach und der unterrichtenden Lehrkraft anzusiedeln. Das andere Fach mit seiner anderen Lehrkraft, wohl aber mit denselben Schülern, arbeitet dem Leitfach zu, vollzieht quasi Dienstleistungen. Selbstverständlich kann auch mit dem Konzept völliger Gleichberechtigung und gemeinsamer Planung experimentiert werden. Dies wäre quasi die höhere Form der interkollegialen Teamarbeit, führt aber schnell an die Grenzen der leistbaren Arbeitsbelastung (ständiger Konferenzzwang).

Institutionelle Hemmnisse des FVU werden von den Initiatoren analysiert, um mit pragmatischen Strategien überwunden zu werden. "Kleine Brötchen zu backen" ist befriedigender als unrealistische Traumideen in den Sand zu setzen.

Eines dieser Hemmnisse ist das Zeitfenster eines normalen Schulalltages, was schnell an die Grenzen führt. Neuerungen des Erziehunsministeriums, von denen ich gehört habe und die sich jetzt weltweit vollziehen, eröffnen da wohl völlig neue Möglichkeiten.

FVU , der selbstorganisiertes Lernen und Teamarbeit einschließt, drängt geradezu nach einer Überwindung des Schulalltags. Er mündet fast zwangsläufig in eine handlungsorientierte, vielleicht sogar in eine produktions- oder gar produktorientierte Richtung. Geradezu als Selbstläufer wird FVU zum Unterrichtsprojekt.  (Tag, Woche, Epoche, Quartal, Jahr). Im Projektunterricht ist die klassische Rollenverteilung zwischen Lehrenden und Lernenden neu bestimmt: Auch eine Lehrkraft kann von Schülern lernen, die Lehrkraft lehrt nicht, sondern organisiert selbsttätige Lernprozesse der Schüler. Sie

·        hilft

·        moderiert

·        stellt Material bereit

·        berät

·        fasst zusammen

·        hat das Ergebnis im Auge

·         überwacht die Selbstverantwortung der Schüler (Tempo, Ergebnisse).

Gelingt FVU in Team- und Projektkonzeption und schließt er ab mit einem fassbaren, sichtbaren, gar verkäuflichen Produkt, haben die SchülerInnen und Lehrkräfte sich nicht nur in zukunftsfähigen Schlüsselqualifikationen (Teamfähigkeit, Selbstständigkeit, Kooperation, Interdisziplinarität) geübt, sondern erleben über das nachhaltige Produkt das Glück sinnvoller Arbeit, das für weitere Bildung von unschätzbarem Motivationswert ist.

Im Laufe der Tagung werde ich von solchen realisierten Projekten berichten und hoffe für Sie, dass Sie als Kollegen zu konkreten Planungen und Verabredungen für solche Projekte kommen. 

Anregungen, Fragen, Kommentare an © 2001 Michael Seeger, zuletzt aktualisiert am 12.03.01