Schwarzweißrot das Band

Der jüdische Autor Hans Mayer erinnert sich in seiner Autobiographie an einen Vorfall in der Schule im Jahre 1922.

 

Ich bin damals mitgelaufen im Häuflein der neuen Bourgeois. Doch die Spaltung innerhalb der Klasse fand sich (...) weiterhin vertieft. Das merkte ich, als wir, zu Beginn des Jahres 1922, die Untersekunda hinter uns gebracht hatten. (...)

Damals stand mein 15. Geburtstag bevor. Der Durchschnitt in der Klasse war etwas älter: ich hatte in der Schule und später auf der Universität stets davon profitieren dürfen, daß ich im März zur Welt kam. Flegeljahre also im Grunde; wir wollten mächtig großtun und beschlossen, einen Einjährigenkommers zu feiern. Alles sollte ablaufen sozusagen wie bei richtigen Studenten, also bei den Erwachsenen. Ich erinnere noch schwach das Hinterzimmer irgendeiner Vorstadtkneipe. Das hatten wir gemietet für unsere Festivitas. Alle hatten gleichmäßig an den Unkosten teilzunehmen. Daß es den einen schwerfiel, den anderen eine Bagatelle war, kam uns nicht in den Sinn. Die Geldentwertung steigerte sich unablässig. Es war Frühjahrsanfang oder Wintersende 1922. Gelernt hatten wir kaum noch in der letzten Zeit: alles erschien uns grotesk neben der Verarmung der einen, der Geldprotzerei der anderen. Ich gehörte, ohne es recht begriffen zu haben, auf die Seite der Profiteure, obwohl ich keinen Grund hatte, an der geschäftlichen Redlichkeit meines Vaters zu zweifeln. Er exportierte und importierte, wie immer seit der Rückkehr aus dem Krieg; ab und zu reiste er in Geschäften nach Holland. Seine Geschäftsfreunde, die bisweilen zu Tisch kamen, meist übrigens Nichtjuden, wirkten solide und waren es wohl auch. Man schwamm mit dem Strom. Spritschieber oder Leute vom Schlage eines Hugo Stinnes waren nicht darunter.

Wir hatten keinen Anlaß, auf Erlöser zu hoffen. Daß es anders war bei vielen Mitschülern und ihren Eltern, sollte ich jäh erkennen auf diesem Einjährigenkommers der Sechzehnjährigen. Man hatte viel dünnes Bier getrunken und kaum etwas gegessen, auch konnten wir, bei aller Männlichkeit, nicht besonders viel vertragen. Wir gaben an, das versteht sich.(...)

Dann war es so weit. Vom Klavier her kam eine mir unbekannte, vielleicht nicht ganz unbekannte, doch insgeheim beschwiegene Marschweise. Viervierteltakt, die starken Taktteile grob betont. Dies war die Gegenwelt zu meinen Beethovensonaten und Davidsbündlertänzen, auch zum eleganten Berliner und New Yorker Tanzmusikangebot. Das da war deutsch, nichts als das, und zwar trotzig-auftrumpfend. Ein Erlösungsmarsch der Hungrigen und Gekränkten:

Hakenkreuz am Stahlhelm,

Schwarzweißrot das Band.

Die Brigade Ehrhardt werden wir genannt!

Was hier gesungen wurde, wir auch mir nicht fremd, doch hatte ich nie vermutet, daß dergleichen ernstgenommen werden könnte am Schiller-Gymnasium: in meiner Schulklasse. Die Farben der Republik waren Schwarzrotgold. Wer sich zur Farbenkombination des Kaiserreichs bekannte, wie es hier singend geschah, lehnte den Staat ab, worin wir lebten, mitsamt der Weimarer Verfassung von 1919. Ebensowenig war mir verborgen geblieben, wenn auch nicht durch kränkende oder gar gefährliche eigene Erfahrung, daß jenes besungene Hakenkreuz den Judenhaß symbolisierte: die entschiedene Absage an bürgerliche Gleichberechtigung. Die Hakenkreuzler, das war wohlbekannt, bekämpften die Republik als »Judenrepublik«. Die Wochenzeitung des >Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens", die man bei uns hielt, berichtete ausführlich über die antisemitischen Kurorte an der Nordsee (Borkum) oder am Tegernsee.

 

Der >Miesbacher Anzeiger< wurde immer wieder, je nachdem angewidert oder belustigt, zitiert von den Redakteuren der »Judenpresse«, etwa dem gleichfalls bei uns gelesenen >Berliner Tageblatt<. Von einem Mann namens Hitler wurde noch nicht viel Wesens gemacht; sein Verbündeter, der einstige Weltkriegsstratege Erich Ludendorff, war ernster zu nehmen. Meine Schulkameraden aber hatten in ihrem Gesang nicht irgendeine der völkischen Parteiungen beschworen, sondern den Kapitänleutnant Ehrhardt, Was heißen sollte: den nationalistischen Terrorismus der Freikorps. Führergestalten wetteiferten damals miteinander: Ehrhardt war nur einer von vielen. Es gab die Leute um Rossbach, um den Hochmeister eines »jungdeutschen Ordens«, Partisanengruppen in Oberschlesien und im Ruhrgebiet. Es gab Helden und Märtyrer in dieser Gegenwelt zur Oberwelt der Weimarer Republik. Die großen Zeitungen entrüsteten sich über Sabotageakte, beim Mord an dem katholischen Politiker Erzberger, beim Vandalentum auf jüdischen Friedhöfen.

Bisher war dies alles für mich bloße Wirklichkeit gewesen aus der Zeitung. Nun aber hatte sich die wohlbekannte Umwelt jäh verändert. Zur Kenntlichkeit oder zur Unkenntlichkeit? Das war noch nicht auszumachen. Vielleicht waren die Sänger aus unserer Klasse auch nur bekenntnisfroh im allgemeinen Sinne: nicht gewillt, von sich aus durch solchen Gesang einen Trennungsstrich zu ziehen zu unsereinem. Sonst hätten sie ein anderes ihrer Lieder anstimmen können:

Schlagt tot den Walther Rathenau,

Die gottverdammte Judensau!

Das taten sie nicht an jenem Kneipenabend. Andere taten es und meinten es auch. Ein Vierteljahr später verblutete Rathenau unter den Schüssen der Offiziere Kern und Fischer von irgendeinem Freikorps. Als jene Weise vom Hakenkreuz am Stahlhelm erklang an jenem Kneipenabend, gab es einen Ruck unter meinen Mitschülern. Dergleichen hatte ich nie erlebt. Einige eilten zum Klavier, andere folgten nach. Man scharte sich um den Klavierspieler, um mitzusingen. Das geschah offensichtlich nicht unvorbereitet. Da fanden sich Gleichgesinnte zusammen beim wohlbekannten Ritual. Die Gesichter waren schön in ihrem Rettungsvertrauen. Nichts mehr von dumpfer Besäufnis. So war man, das hatte ich erlebt, singend in den Krieg gezogen. Mein Vater hatte nicht mitgesungen, erinnerte ich noch. Diese hier aber, die wohlbekannten Kameraden aus nunmehr sechs Schuljahren, wollten von neue marschieren. Hinaus in eine Ferne, wo es keine deutsche Niederlage mehr gab und keinen Versailler Vertrag, kein jüdischen Reichsaußenminister und keine Spritschieber.

 

Hans Mayer, Ein Deutscher auf Widerruf, Erinnerungen I, (Suhrkamp), Frankfurt a.M. 1982, S. 36-39

 

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